Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
unter Druck gesetzt, sie schmoren
lassen … nichts. Sie konnte Polizisten einfach nicht ausstehen, und da dieses
Credo vermutlich das einzige war, was sie aus ihrer vielversprechend wilden
68er-Jugend in ihr unausgefülltes Gattinnendasein auf hohem finanziellen
Nutzlosigkeits-Niveau herübergerettet hatte, hielt sie daran fest. Bis Volker
kam. Volker war sauer, weil die Frau sie alle schon viel zu viel Zeit gekostet
hatte. Sie saß schnippisch auf einem Stuhl und blickte blasiert in die Gegend.
Volker stellte sich vor sie, stellte sich einfach hin, direkt vor sie, mit
seinen knapp zwei Metern Körpergröße ein einziger hagerer Vorwurf, aufrecht wie
der Hamburger Fernsehturm, ein sehniger Turm mit tiefliegenden Augen im
obersten Stockwerk unter der wenig sorgfältig rasierten Glatze, die Hände in
die Hüften gestützt, und sah nur stumm auf sie herab. Eine Minute, zwei
Minuten, drei … Er starrte sie an, ohne sichtbare Regung oder gar Wertung, doch
er entließ sie für keine Millisekunde aus seinem Bannstrahl, der sie alles
vergessen ließ, vergessen ließ, wo sie war, wer sie war, warum sie war und ob
überhaupt. Nach etwa vier Minuten brach ihr Widerstand zusammen. Sie sprudelte
wie ein lecker Öltanker. Auf den Fluren im Hamburger Polizeipräsidium ging
hinterher das Gerücht, Volker hätte die Frau hypnotisiert, doch diese
Interpretation lehnte er strikt ab. Als die Kollegen ihn fragten, was er statt
dessen mit ihr gemacht habe, sagt er: »Ich habe sie aus der Zeit geschnitten und
entleert.«
Die Bedienung brachte Eberhard und Volker frisches Bier. Den Blick
auf das sommerabendliche Treiben und ohne anzustoßen tranken beide einen
kräftigen Schluck. Eberhard sah auf die Uhr: »Brauchen ganz schön lange die
beiden.«
»Karen ist gründlich. Die entknotet jede Darmschlinge«, antwortete
Volker.
»Schon gut.« Eberhard nahm angewidert den nächsten Schluck.
Der Hörsaal war bis auf den letzten Platz besetzt, die
Luft entsprechend schlecht. Studenten aller Semester saßen in den Reihen. Noch
herrschte große Unruhe. Als regelmäßige Gastdozentin hatte sich Anna an der
Hamburger Uni im Laufe der letzten drei Jahre einen harten Kern an Zuhörern aus
der psychologischen Fakultät erarbeitet und durch ihr Buch auch fachfremde
Anhänger dazugewonnen. Doch daß sie an einem Freitagabend den großen Saal
vollbekommen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Anna begrüßte die
Studenten mit der ihr eigenen Lässigkeit und begann ihren Vortrag:
»Ich nehme an, daß Sie zu meinem heutigen Thema ›Kultfigur Killer –
Monster oder Mr. Right?‹ so zahlreich erschienen sind, weil Sie ein paar
hübsche Fallbeispiele mit herumspritzendem Blut, zerteilten Gliedmaßen und
heraushängenden Gedärmen erwarten. Ich muß Sie enttäuschen. Um Sie aber dennoch
zumindest die erste halbe Stunde im Saal zu halten, beginne ich mit ein paar
kurzen Bemerkungen über die Rezeption des Killers. Klugerweise bediene ich mich
dabei Ihres, ich hoffe nur in diesem speziellen Falle, sicher eingeschränkten
Erfahrungshorizontes. Denn da Sie alle mehr Zeit im Kino als in der
Staatsbibliothek verbringen, begeben wir uns in die Filmgeschichte – ohne
allerdings zu diskutieren, ob das Kino einen Spiegel der gesellschaftlichen
Verhältnisse darstellt.
Das sogenannte Böse hat den Menschen schon immer fasziniert, denn es
übt Macht aus: schwer oder gänzlich unkontrollierbare Macht. Um aber den
Zusammenhalt eines jeden sozialen Gefüges zu gewährleisten, wird abweichendes
Verhalten, vor allem das mit zerstörerischen Folgen, gesellschaftlich
sanktioniert. Mord beispielsweise. Seit es das Kino gibt, beschäftigt es sich
mit Mord und Totschlag. Auffällig ist dabei allerdings, wie sich der Typus des
Mörders im Laufe der Kinogeschichte gewandelt hat. Vom absolut Bösen
schlechthin, einer eher apokalyptischen Bedrohung, wird es immer mehr als
zutiefst dem Menschen innewohnender Faktor akzeptiert. Die Entwicklung der
Psychoanalyse prägt die ersten Bilder vom kranken Killer: Wir erinnern uns an
Doktor Caligari oder Peter Lorre in ›M – Eine Stadt sucht einen Mörder‹. Den
Filmen der fünfziger Jahre ist dann ein profundes Mißtrauen gegen die
herrschende soziale Ordnung gemein, die die Krise nicht verhindert hat. Es gibt
keine Schwarzweißmalerei mehr, keine eindeutige Trennung von Gut und Böse,
statt dessen geht es um schäbige Durchschnittsexistenzen, korrupte Polizisten,
schlecht bezahlte Detektive …«
Anna trank einen Schluck aus
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