Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
lassen. Der Sicherungsangriff ist von
unserer Seite so gut wie abgeschlossen, Beweismittel, Pflanzen- und Bodenproben
sind gesammelt, Skizzen und Fotos gemacht worden. Viel zu sehen gibt es
allerdings nicht. Hier regnet es schon seit Tagen.«
Christian hörte Philipp nur noch mit halbem Ohr zu, sein Blick und
seine Konzentration waren auf die Leiche unter dem Plastikbaldachin gerichtet,
der er sich nun langsam näherte. Karen, Eberhard und Volker hielten sich still
im Hintergrund. Sie wußten von gemeinsamen Tatortbegehungen, daß ihr Chef,
bevor er seinen analytischen Verstand einschaltete, erst einmal ein Gefühl für
die Atmosphäre am Schauplatz entwickeln wollte. Plötzlich war es still über der
Lichtung, keiner sprach mehr, keiner außer Christian bewegte sich. Selbst die
Vögel blieben stumm. Nur Christians leise, schmatzende Schritte waren zu hören
und das gleichmäßige Trommeln des Regens auf den Blättern.
Der Körper lag in etwa einem Meter Entfernung mittig vor dem Felsen,
aufgebahrt auf einem offensichtlich sorgsam zusammengetragenen Bett aus Reisig
und Laub. Rechts und links vom Kopf der Leiche standen zwei große cremefarbene
Kerzen im Boden, deren Dochte zwar schwarz, aber kaum abgebrannt waren,
vermutlich waren sie kurz nach dem Anzünden durch den Regen gelöscht worden.
Die Leiche war in ein ehemals weißes Laken gehüllt, das inzwischen durchnäßt
und fleckig war. Nur die über dem Tuch gefalteten Hände waren zu sehen.
Schmutzige Finger, abgekaute Nägel. Und das Gesicht lag frei, ein Gesicht, so
wächsern und bleich wie die Kerzen. Dunkle Haare, klatschnaß. Die Augen
geschlossen. Ruhig. Ein Junge. Höchstens neun Jahre alt. Weiß. Rein. Unschuldig.
Tot.
Christian blieb einige Minuten stumm vor dem Jungen stehen,
betrachtete ihn. Dann wandte er sich langsam um und gab seinen Leuten das
Zeichen zu beginnen. Wortlos kamen sie herbei, einer nach dem anderen. Karen
begutachtete die Leiche. Volker und Eberhard vollzogen die Tatortarbeit nach,
die von den saarländischen Beamten schon geleistet worden war. Doch sie mußten
sich ein eigenes Bild machen und dabei überprüfen, ob etwas übersehen oder
verfälscht worden war. Während sie wie immer sehr leise ihrer Arbeit
nachgingen, fotografierten, filmten, suchten und untersuchten,
Vergleichsmaterial sammelten, protokollierten, verpackten, hielten Philipp und
seine Beamten respektvoll Abstand, was Eberhard, Volker und Karen angenehm
überrascht zur Kenntnis nahmen. Vor einer Woche noch hatten sie bei ihren
Ermittlungen wegen der letzten Leiche, die südlich von Augsburg gefunden worden
war, mit der arroganten Mißgunst der bayrischen Beamten zu kämpfen gehabt, die
sich durch die norddeutsche SOKO bevormundet fühlten.
Unterdessen stellte sich Christian auf die andere Seite
der Lichtung in etwa zehn Meter Entfernung, um ein Gesamtbild des archaisch
wirkenden Arrangements in sich aufzunehmen. Sein Gesicht, dieses Sammelsurium
von attraktiven, aber kaum zueinander passenden Einzelteilen, die durch tiefe
Furchen teils voneinander getrennt, teils durch sie verbunden waren, schien
trotz völliger Bewegungslosigkeit in den untersten Muskelschichten zu arbeiten.
Christian spürte weder den Regen, der ihm durch die Haare übers
Gesicht und in den Kragen lief, noch die Schwere seiner nassen Klamotten. Wie
hypnotisiert starrte er auf den toten Jungen, starrte und starrte, als wartete
er auf irgendwas, vielleicht ein Wunder, und das Kind könnte sich plötzlich
erheben und lächeln, und alles wäre gut, doch das war es nicht, er löste den
Blick, ließ ihn wandern, auf die Kerzen, den Felsen, das Leichentuch, den
Jungen, die Bäume, er sog den modrig-feuchten Duft des Waldbodens ein, ließ das
satte Grün der Laubbäume wirken, das monotone Tropfen des Regens von den
Blättern. Wie lange war er schon nicht mehr im Wald gewesen? Monate vermutlich.
Nein, fast ein Jahr. Als er noch zusammen mit Mona und ihrer Kampfhundattrappe … Christian unterbrach seine abschweifenden Gedanken energisch, denn ihm war
klar, daß der menschliche Geist sich gerne Schlupflöcher sucht, um der
Beschäftigung mit einem Anblick, wie er ihn gerade vor sich hatte, zu
entkommen. Er atmete schwer, ohne es zu bemerken. Er konzentrierte sich, ohne
zu denken. Er nahm Fährte auf.
Etwa eine Stunde später trat Eberhard flüsternd zu ihm:
»Nette Kollegen hier im Saarland, sehr dezent – zumindest seit wir hier sind.
Aber vorher muß eine Horde Bullen ’ne Stampede über die Spuren
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