Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
ihrem am Pult stehenden Wasserglas und
prüfte mit geübtem Blick, ob sie ihre Zuhörer hatte. Sie hatte sie.
»Wir machen jetzt mal einen Sprung in die jüngere Vergangenheit. Was
ist mit Blockbustern wie ›Das Schweigen der Lämmer‹ oder ›Natural Born
Killers‹? Der Killer ist zum medial gefeierten Helden geworden, er erhebt sich
über Recht und Gesetz, steht außerhalb der Gesellschaft, nur seiner
Unabhängigkeit und seinem beruflichen Ehrenkodex – denn die meisten haben einen – verpflichtet. Der Killer ist inzwischen in vielen Filmen zum romantisierten
Zorro geworden, der den Punks ihre Rebellion zurückgibt, seit die Haute Couture
ihnen die Klamotten geklaut hat …«
Spöttische Lacher im Auditorium.
»Und während wir uns am filmischen Vollzug unserer gewalttätigen
Phantasien durch Stellvertreter mit Star-Appeal delektieren, sitzen zu Hause
zwischen pastellfarbenen Plüschkissen einsame Herzen, die die echten Killer in
diesem unseren Lande anbeten, ihnen gefühlvolle Briefe schreiben und sie mit
ihrer Liebe erlösen wollen. Was sind das für Frauen? Was treibt sie an? Ich
helfe, also bin ich?«
Anna trank noch einen Schluck Wasser.
»Meine Damen und Herren, verstehen Sie mich nicht falsch, ich gehöre
nicht zu denen, die das Kino oder das Fernsehen für jedes noch so absurde
gesellschaftliche Phänomen verantwortlich machen. Ob Angebot Nachfrage schafft
oder erst auf sie reagiert, ist hier nicht das Thema. Ich will lediglich Ihre
Sensibilität für die eigene Verführbarkeit wecken. Und für die psychische
Struktur von Frauen, die sich von Gewaltverbrechern angezogen fühlen.«
Die Tür zum Hörsaal wurde quietschend geöffnet. Ein attraktiver
junger Mann trat herein, der sich umsah und sich dann in Ermangelung eines
anderen Platzangebots direkt vorne auf die Treppe setzte. Annas Blick blieb
kurz an ihm hängen. Sie hatte das irritierende Gefühl, daß er ihr mit einem
kaum merklichen Nicken die Erlaubnis erteilte, fortzufahren.
Die Sonne war schon seit einigen Stunden hinter den
Häusern verschwunden, aber der Marktplatz speicherte die Wärme, so daß man
immer noch draußen sitzen konnte. Volker und Eberhard waren bei ihrem vierten
Bier angelangt und diskutierten die vergangene Bundesliga-Saison des HSV, als
Christian und Karen plötzlich neben ihnen auftauchten. Krachend ließ Christian
einen großen Pappkarton auf den Stuhl neben Volker fallen:
»Das Material, das wir schon gesichtet und katalogisiert haben.
Bevor die weltweiten Logistiker von der Post wieder vier Tage brauchen, bis sie
es nach Hamburg bringen, lassen wir Vater Staat lieber für das Übergepäck
löhnen … Mal sehen, wie viele Kisten noch dazukommen. Den Tatortbefundbericht
faxt Philipp uns morgen zu.«
Christian und Karen zogen zwei gerade frei gewordene Stühle heran
und setzten sich. Eberhard und Volker sahen die beiden erwartungsvoll an. Karen
hatte einen triumphierenden Ausdruck auf dem Gesicht. Die Kellnerin trat an den
Tisch, ohne daß Karen sie bemerkte.
»Sperma«, sagte Karen zu Eberhard und Volker.
Die Kellnerin blickte irritiert zu Karen, wurde jedoch von allen am
Tisch ignoriert. Volker beugte sich angespannt vor: »Sperma?«
»Ja. Im Darm«, erwiderte Karen knapp.
Auf Christians Gesicht spiegelte sich ein Lächeln über diese
sachliche Distanziertheit, die Außenstehende oft mit Gefühlskälte
verwechselten. Darüber hinaus war Karen wie die meisten Rechtsmediziner mit
einer gehörigen Portion Zynismus gesegnet, der ihr den nötigen Abstand schaffte
zum Grauen ihres Berufsalltags.
Eberhard grinste verstohlen über den hilflosen Blick der Kellnerin,
die nicht wußte, ob sie bleiben und sich bemerkbar machen oder lieber
klammheimlich wieder gehen sollte.
»Die Dame redet den ganzen Tag von Sperma, das muß Sie nicht
stören«, erklärte Eberhard der Kellnerin. Erst jetzt bemerkten Karen und Volker
die Bedienung. Karen lächelte sie zuckersüß an: »Achten Sie nicht auf diese
Idioten. Ich hätte gerne ein Bier.« Christian bestellte das gleiche, und die
Bedienung zog sich erleichtert zurück.
Manchmal wunderte er sich, daß Karen erst ein Jahr in seinem Team
war, denn es kam ihm vor, als wäre sie von Anfang an dabeigewesen. Sein Kumpel
Fred Thelen, der 2. Vizepräsident des BKA, hatte sie wärmstens empfohlen, denn sie
hatte drei Jahre bei der IDKO, der Identifizierungskommission, gearbeitet, für
die sie in Katastrophengebieten im In- und Ausland Leichen untersuchte. Zuerst
hatte Christian
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