Der beste Tag meines Lebens
Tatsache, die zweite eine sehr wahrscheinliche Vermutung. Trotzdem hätte man unmöglich sagen können, ob Colin die Wahrheit sagte, um Sandys Reaktion zu beeinflussen. Seine Miene war ausdruckslos, seine Stimme ohne Emotion. Er war ein wandelnder Kuleschow-Effekt.
»Sag die Wahrheit oder trag die Konsequenzen. Ich weiß, dass man meinen könnte, du kämst besser weg, wenn du die Aussage verweigerst, doch das stimmt nicht. Da steht die Mathematik definitiv nicht auf deiner Seite.« Er machte noch einen Schritt auf sie zu und merkte nicht einmal, dass er dabei Sandy so nahe kam, wie es ihm unter normalen Umständen absolut unmöglich gewesen wäre. »Sag jetzt die Wahrheit, bevor die Polizei hier ist«, beharrte er. »Denn vielleicht musst du dann nicht ins Gefängnis.«
»Das reicht«, unterbrach Dr. Doran und meinte offensichtlich, was sie sagte. »Wir sind hier fertig.«
»Aber wir müssen noch Eddie damit konfrontieren. Wir müssen ihn fragen, wie er den Kontakt zu
La Familia
hergestellt und den Kauf abgewickelt hat. Das ist viel wichtiger als …«
»Genug jetzt.«
Ihre Heftigkeit brachte ihn kurzfristig zum Schweigen und erstaunte ihn. »Dr. Doran …«
»Er war so wütend auf Wayne«, meldete sich plötzlich Sandy zu Wort, während sie aus dem Fenster starrte. Sie klang seltsam und wie losgelöst von allem. Ihre Angst schien verschwunden, während die Worte aus ihr heraussprudelten. »Ich wusste nicht, was er tun würde. Ich konnte doch nicht zulassen, dass er jemand verletzt oder sich sonst wie in Schwierigkeiten bringt.« Sie sah jetzt flehend zu Dr. Doran hin. »Bitte bringen Sie mich nicht ins Gefängnis.«
Dr. Dorans Blick wanderte zum Panoramafenster auf der anderen Seite des Sekretariats, hinter die Schreibtische ihrer Mitarbeiterinnen. Dort draußen konnte sie sehen, worauf Sandy die ganze Zeit über gestarrt hatte, während sie geredet hatte: Ein Polizeiwagen parkte in der Einfahrt. Zwei Polizisten des Los Angeles Police Department kamen gerade auf den Haupteingang zu.
»Sandy, geh in mein Büro und ruf von dort aus deine Eltern an«, sagte Dr. Doran kurz angebunden. »Sofort.«
Das musste sie Sandy kein zweites Mal sagen. Unverzüglich verschwand sie in dem schmalen Flur, der zu Dr. Dorans Büro führte. Dr. Doran wartete, bis sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, dann fixierten ihre Augen Wayne und Colin. Sie sah nicht aus wie eine Behördenvertreterin, die Bürgern für ihre Eigeninitiative dankbar ist.
»Wayne, du gehst nach Hause. Um deine Angelegenheiten kümmern wir uns morgen. Und Colin …« Sie verstummte. In diesem Meer aus Unsicherheiten, in dem sie im Moment herumschwamm, war sie sich in keinem Punkt so unsicher wie darin, was sie mit ihm anfangen sollte.
»Sie brauchen sich nicht bei mir bedanken«, kam Colin ihr zu Hilfe. »Als Nächstes beschäftigen wir uns mit Eddie.«
»Du bist gestern nicht zum Nachsitzen erschienen. Das Strafmaß hat sich dadurch verdoppelt.«
Nach diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Sekretariat, um die Polizei abzufangen, bevor alles noch schlimmer wurde. Wayne sah ihr nach und wartete, bis das Geräusch ihrer Absätze nicht mehr zu hören war, bevor er sich traute, Colin anzusprechen.
»Alter«, sagte er schließlich. »Das war ja irre.«
Colin sank eine Spur in sich zusammen. Seine Brille verrutschte, und er schob sie wieder zurecht. So hatte er sich das Ende der Geschichte nicht vorgestellt. Später hielt er diese Beobachtung in seinem Notizbuch wie folgt fest:
Das richtige Leben funktioniert nicht wie ein Kriminalroman. Aber das sollte es. Weiter ermitteln.
»Beim Nachsitzen ist es ruhig«, sagte Colin. »Ich mag das, wenn es ruhig ist.«
14 . Kapitel
Hans Asperger
Die untergeordnete Kategorie Asperger-Syndrom innerhalb des Autismusspektrums hat ihren Namen von dem österreichischen Kinderarzt Hans Asperger, der in den 1930 er und 40 er Jahren in Wien forschte und arbeitete. Als Kind zeigte Asperger selbst viele Aspekte des nach ihm benannten Syndroms. Der schüchterne, unnahbare und einsame Asperger besaß ein Talent für Sprachen und ein erstaunliches Gedächtnis für Themen, die ihn interessierten; oft verstörte oder langweilte er Klassenkameraden mit dem Rezitieren langer Passagen aus dem Werk seines Lieblingsdichters.
Als Erwachsener arbeitete er mit behinderten Kindern und war vor allem fasziniert von einer Gruppe Patienten, die er seine »kleinen Professoren« nannte –
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