Der Besucher - Roman
die Tür zur Bibliothek und ließ mich eintreten.
Nach den ausgiebigen Regengüssen des Winters roch es in dem Zimmer muffiger denn je. Doch Betty oder Caroline selbst hatten den einzigen noch funktionierenden Fensterladen geöffnet, und im Kamin brannten die schwachen Reste eines Feuers. Neben einem der Lehnstühle waren zwei Lampen aufgestellt worden. Ich musterte das Arrangement mit einer gewissen Verwunderung.
»Hast du hier gesessen?«
»Ich habe gelesen, während Mutter schlief«, erwiderte sie. »Nachdem du gestern gegangen bist, habe ich mich noch ein wenig mit Betty unterhalten. Und was sie mir erzählt hat, hat mir zu denken gegeben.«
Sie trat einen Schritt zurück in die Eingangshalle und rief nach Betty. Sie musste dem Mädchen aufgetragen haben, dort irgendwo zu warten, denn obwohl sie nur leise rief, tauchte Betty beinahe augenblicklich auf. Sie folgte Caroline über die Schwelle, dann sah sie mich im Halbdunkel sitzen und zögerte. »Komm bitte rein und mach die Tür hinter dir zu«, forderte Caroline das Mädchen auf.
Betty trat vor und senkte verlegen den Kopf.
»Also«, sagte Caroline. Sie hatte die Hände verschränkt und rieb sich geistesabwesend mit den Fingern der einen über die Knöchel der anderen Hand, als wolle sie die pergamentene Sprödigkeit ihrer Haut glätten. »Ich möchte, dass du auch Dr. Faraday erzählst, was du mir gestern gesagt hast.«
Betty zögerte wieder, dann murmelte sie: »Das möcht ich aber nich, Miss.«
»Komm, stell dich nicht so an. Keiner wird es dir übel nehmen. Was hast du mir gestern Nachmittag noch erzählt, nachdem der Doktor gegangen war?«
»Bitte, Miss«, sagte sie mit einem Seitenblick auf mich. »Ich hab Ihnen erzählt, dass was Böses hier im Haus is.«
Ich muss wohl einen abfälligen Ton oder eine Geste gemacht haben, denn Betty hob trotzig den Kopf und reckte das Kinn vor. »Es is aber da. Und das weiß ich schon seit Monaten. Und ich hab’s auch dem Doktor gesagt, aber er hat bloß gesagt, ich soll kein’ Quatsch erzählen. Aber ich hab kein’ Quatsch erzählt. Ich hab genau gewusst, dass da was war! Ich hab’s gespürt!«
Caroline beobachtete mich. Ich begegnete ihrem Blick und sagte steif: »Es stimmt tatsächlich, dass ich Betty gebeten habe, nichts davon zu erwähnen.«
»Erzähl Dr. Faraday, was genau du gespürt hast«, sagte Caroline, als habe sie mich gar nicht gehört.
»Ich hab’s bloß gespürt«, sagte Betty mit schwacher Stimme. »Im Haus. Es is … es is … wie ein böser Diener!«
»Ein böser Diener!«, wiederholte ich.
Sie stampfte mit dem Fuß auf. »So isses aber. Er hat hier oben Sachen verrückt. Unten hat er nie was gemacht. Aber er hat Sachen umgeschmissen und Dinge schmutzig gemacht – als hätt’ er sie mit dreckigen Fingern angefasst. Eigentlich wollt ich was sagen, nach dem Feuer. Aber Mrs. Bazeley hat gesagt, ich sollt’s nich, weil Mr. Roderick dran schuld wär. Aber dann sind die ganzen komischen Sachen mit Mrs. Ayres passiert, die Geräusche, das ganze Geklopfe und Geflatter – und dann hab ich was gesagt. Madam selbst hab ich’s gesagt.«
Nun wurde mir einiges klar. Ich verschränkte die Arme. »Ich verstehe. Nun, das erklärt vieles. Und was hat Mrs. Ayres dazu gesagt?«
»Sie hat gesagt, sie wüsst schon Bescheid drüber. Sie hat gesagt, es wär ein Geist. Sie hat gesagt, sie würd ihn mögen. Und er wär jetzt unser Geheimnis, ihrs und meins, und ich sollt’s nich weitersagen. Und ich hab’s dann auch niemandem weitergesagt, nich mal Mrs. Bazeley. Und ich dacht auch, es wär richtig, denn Mrs. Ayres kam mir so glücklich vor. Aber jetzt is der Geist wieder böse geworden, oder? Und ich wünschte, ich hätt was gesagt! Denn dann wär Madam nix passiert! Es tut mir so leid! Aber ich kann nix dafür!«
Sie brach in Tränen aus und bedeckte das Gesicht mit den Händen, während sich ihre Schultern hoben und senkten. Caroline trat zu ihr und sagte: »Schon gut, Betty. Niemand gibt dir Schuld daran. Du hast dich gestern vorbildlich verhalten, als wir anderen alle völlig durcheinander waren. Komm, wisch dir die Augen.«
Schließlich beruhigte sich das Mädchen, und Caroline schickte sie wieder zurück ins Untergeschoss. Sie machte sich gehorsam auf den Weg, nicht ohne mir jedoch einen anklagenden Blick zuzuwerfen. Nachdem sie gegangen war, starrte ich noch eine Zeit lang die Tür an, die sich hinter ihr geschlossen hatte, und spürte die vorwurfsvolle Stille und Carolines aufmerksamen Blick
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