Der Besucher - Roman
Ayres.«
»Ich habe mich wie eine närrische alte Frau benommen, das ist alles!« Ihre Stimme verlor zum ersten Mal etwas von ihrer Festigkeit. Sie schloss die Augen und rang sich ein Lächeln ab. »Ich fürchte, meine Gefühle sind mit mir durchgegangen! Dieses Haus begünstigt anscheinend Phantastereien und spinnerte Geschichten. Wir leben hier draußen einfach viel zu abgeschieden. Mein Mann pflegte immer zu sagen, dass Hundreds Hall das abgelegenste Haus in ganz Warwickshire sei. Das hat dein Vater doch immer gesagt, nicht wahr, Caroline?«
Caroline war immer noch damit beschäftigt, die Verbände zusammenzulegen. Ohne aufzublicken, erwiderte sie: »Ja, das hat er.«
Ich wandte mich wieder ihrer Mutter zu. »Ja, sicherlich trägt das Haus in seinem gegenwärtigen Zustand zum Teil Schuld daran. Doch als ich Sie gestern sah, haben Sie einige sehr merkwürdige und erschreckende Dinge gesagt.«
»Ich habe einen ganzen Haufen Unsinn erzählt! Ich schäme mich, wenn ich nur daran denke! Was müssen Mrs. Bazeley und Betty bloß von mir halten … Ach bitte, Herr Doktor, lassen Sie uns nicht mehr darüber sprechen!«
»Die Angelegenheit erscheint mir jedoch zu ernst, um einfach darüber hinwegzusehen«, sagte ich vorsichtig.
»Wir haben doch auch nicht darüber hinweggesehen. Sie haben mir ein Medikament gegeben. Caroline hat sich um mich gekümmert. Und nun geht es mir wieder gut.«
»Sie waren nicht beunruhigt? Oder haben vor irgendetwas Angst gehabt?«
»Angst?« Sie lachte. »Um Himmels willen, wovor denn?«
»Nun, gestern schien es mir, als hätten Sie sogar sehr große Angst. Sie haben von Susan geredet …«
Sie rückte in ihrem Sessel hin und her. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich einen Haufen Unsinn geredet habe! Ich … Ich hatte einfach zu viel im Kopf. Ich bin in letzter Zeit zu viel allein gewesen, das ist mir nun klar geworden. In Zukunft werde ich wieder mehr Zeit mit Caroline verbringen, mich abends zu ihr setzen und so weiter. Bitte dringen Sie nicht weiter in mich! Bitte nicht.«
Sie legte ihre verbundene Hand auf meine. Ihre großen, dunklen Augen wirkten in dem angespannten Gesicht immer noch einigermaßen glasig, doch ihre Stimme hatte wieder eine normale Höhe erreicht, und ihr Tonfall klang aufrichtig. Es gab keinerlei Hinweise mehr auf die gehetzte, wirr vor sich hin stammelnde Frau vom Vortag.
Schließlich sagte ich: »Also gut. Aber ich hätte gern, dass Sie sich noch etwas ausruhen. Ich denke, Sie sollten sich wieder ins Bett legen. Ich werde Caroline ein Medikament für Sie geben – nur ein leichtes Beruhigungsmittel. Ich möchte, dass Sie nachts acht Stunden tief und traumlos schlafen, bis Sie Ihre alte Kraft wiedergewonnen haben. Wie klingt das?«
»So als ob ich alt und gebrechlich wäre!«, erwiderte sie mit einem Hauch von Ironie in der Stimme.
»Nun, ich bin hier der Arzt. Sie müssen mir schon zugestehen, zu entscheiden, wer hier gebrechlich ist!«
Sie erhob sich, unwillig vor sich hin brummelnd, gestattete mir jedoch, ihr ins Bett zurückzuhelfen. Ich gab ihr noch ein Veronal – diesmal in einer geringeren Dosis –, und Caroline und ich blieben an ihrem Bett sitzen, bis sie unter Seufzen und Murmeln eingeschlafen war. Als wir sicher waren, dass sie fest schlief, stahlen wir uns leise aus dem Zimmer.
Draußen auf der Empore betrachtete ich kopfschüttelnd die geschlossene Tür zu ihrem Zimmer.
»Es geht ihr so viel besser! Es ist einfach unglaublich. War sie schon den ganzen Morgen so?«
»Genau so«, erwiderte Caroline, wich jedoch meinem Blick aus.
»Sie scheint wieder ganz die Alte zu sein.«
»Meinst du wirklich?«
Ich blickte sie fragend an. »Du denn nicht?«
»Ich bin mir da nicht so sicher. Du musst wissen: Mutter ist sehr gut darin, ihre Gefühle zu verbergen. Ihre ganze Generation ist darin geübt, vor allem die Frauen.«
»Na ja, es scheint ihr jedenfalls sehr viel besser zu gehen, als ich eigentlich erwartet hätte. Hauptsache, wir können sie nun weiterhin ruhighalten.«
Sie warf mir einen Blick zu. »Ruhig? Glaubst du wirklich, dass wir das hier können? Hier in diesem Haus?«
Die Frage kam mir seltsam vor angesichts der Tatsache, dass wir in diesem stillen Haus standen und mit gedämpften Stimmen sprachen. Doch ehe ich etwas erwidern konnte, war sie schon weitergegangen. »Komm mal kurz mit runter«, sagte sie. »In die Bibliothek. Ich möchte dir gern etwas zeigen.«
Unschlüssig folgte ich ihr in die Eingangshalle. Sie öffnete
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