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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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sehen.«
    Ich betrachtete die erste Seite, und die Aufzählung der Kapitelüberschriften fiel mir ins Auge. Mit einem Hauch von Abscheu in der Stimme las ich einige vor: »›Der Gast im Tempel‹, ›Doppelträumen und Scheintod‹, ›Bekümmerte Geister‹, ›Spukhäuser‹.« Ich ließ das Buch wieder sinken. »Ich dachte, das hätten wir gestern schon zu Genüge abgehandelt. Glaubst du wirklich, dass deine Mutter sich erholen wird, wenn du sie in ihrem Glauben bestärkst, dass in diesem Haus ein Gespenst herumspukt?«
    »Aber das glaube ich doch gar nicht!«, sagte sie rasch. »Das glaube ich überhaupt nicht. Ich weiß, dass Mutter das denkt, und auch Betty. Doch in diesen Büchern ist von ganz anderen Phänomenen die Rede, nicht von Gespenstern. Eher … eher von Poltergeistern.«
    »Poltergeister!«, rief ich verächtlich. »Mein Gott! Warum nicht gleich Vampire oder Werwölfe?«
    Sie schüttelte frustriert den Kopf. »Noch vor einem Jahr hätte ich wahrscheinlich genauso reagiert wie du. Aber es ist doch bloß ein Begriff. Eine Bezeichnung für etwas, was wir nicht begreifen, für eine Art Energie oder eine Sammlung von Kräften. Oder für etwas, was in uns selbst ist. Ich weiß es auch nicht. Diese Autoren hier: Gurney und Myers.« Sie schlug das andere Buch auf. »Sie reden von ›Phantasmen‹. Damit meinen sie nicht etwa Geister, sondern menschliche Anteile.«
    »Menschliche Anteile?«
    »Ja, unbewusste Anteile der Persönlichkeit, die so stark und ungestüm sind, dass sie sich loslösen und eine eigenständige Existenz erlangen können.« Sie hielt mir das aufgeschlagene Buch hin. »Sieh mal hier. Hier wird über einen Mann in England berichtet, der unbedingt mit seiner Freundin sprechen will – und dann erscheint er der Frau und ihrer Begleiterin genau in dem Moment, in einem Hotelzimmer in Kairo. Als sein eigener Geist. Und hier geht es um eine Frau, die nachts einen Vogel flattern hört – genau wie Mutter. Dann sieht sie ihren Ehemann vor sich stehen, der eigentlich in Amerika ist. Und später findet sie heraus, dass er genau in diesem Moment gestorben ist. In dem Buch heißt es, dass manche Menschen, wenn sie unglücklich oder verzweifelt sind … oder auch, wenn sie etwas ganz fest wollen … Manchmal merken sie es selbst gar nicht … Aber etwas spaltet sich von ihnen ab … Und jetzt denke ich … Ich muss immer wieder an diese Telefonanrufe denken … Wenn nun doch Roddie irgendwie der Auslöser ist?«
    » Wie bitte? «, rief ich entgeistert.
    »Nun, wenn an diesem Buch etwas Wahres dran ist, dann steckt irgendjemand dahinter. Irgendjemand muss das alles ausgelöst haben. Stell dir vor, wenn es nun mein Bruder ist … Angenommen, er möchte zu uns zurück. Du weißt doch, wie unglücklich und verzweifelt er werden konnte. Dieser Geist, den Betty gespürt hat: Das kann doch er gewesen sein, schon die ganze Zeit über!«
    »Es kann auch genauso gut Betty selbst gewesen sein! Hast du mal daran gedacht? Ihr habt doch all diese Probleme erst, seit sie ins Haus gekommen ist, oder?«
    Sie verwarf diesen Gedanken mit einer ungeduldigen Geste.
    »Da könnte man ebenso gut sagen, dass wir die Probleme erst hatten, seit du in dieses Haus gekommen bist! Du hörst mir überhaupt nicht richtig zu. Die Geräusche, das Klingeln – das sind alles Zeichen, oder etwa nicht? Sogar die Kritzeleien auf den Wänden. Die Stimme im Sprachrohr gestern – laut Mutter war sie nur schwach, kaum mehr als ein Atmen. Vielleicht hat sie bloß angenommen, es sei Susan, weil sie das gerne hören wollte. Vielleicht war es in Wirklichkeit Rods Stimme!«
    »Aber da war keine Stimme!«, sagte ich. »Da kann gar keine Stimme gewesen sein. Und was die Dienstbotenklingeln anbelangt … Das haben wir doch alles schon besprochen … Die alten, defekten Drähte …«
    »Aber hier in dem Buch …«
    Ich legte meine Hände auf ihre, die immer noch das Buch umklammert hielten. »Caroline, bitte! Das ist doch alles Blödsinn, und das weißt du auch. Das sind Märchen, mein Gott! Ich hatte mal einen Patienten, der versucht hat, seiner Frau mit einem Hammer den Schädel einzuschlagen. Er meinte, sie wäre gar nicht wirklich seine Frau; eine andere Frau hätte sie ›verschluckt‹, und er müsse bloß den Kopf der falschen Frau aufschlagen, um die richtige zu befreien! Zweifellos würde dein Buch ihn bestätigen. Ein schöner Fall von Geister-Besessenheit! Stattdessen haben wir den Mann ins Krankenhaus gebracht und ihm ein Bromid gegeben,

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