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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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oder etwa nicht?«, rief sie und entzog mir heftig ihre Hände. »Irgendetwas ist hier. Das weiß ich. Ich glaube, ich habe es schon gewusst, als Rod krank geworden ist, aber ich hatte zu viel Angst, um dem ins Auge zu sehen … Ich muss auch immer wieder daran denken, was meine Mutter gesagt hat, als wir diese letzten Kritzeleien entdeckt haben. Sie sagte, dass das Haus all unsere wunden Punkte kennt und sie reizen will, einen nach dem anderen. Roddies wunder Punkt war das Haus selbst, verstehst du. Meiner … nun, meiner war vermutlich Gyp. Und Mutters wunder Punkt ist Susan. Es ist gerade so, als ob sie durch die Kritzeleien, die Schritte und die Stimme geärgert werden soll. Als ob irgendetwas sie necken will!«
    »Caroline, das kannst du doch nicht im Ernst glauben«, sagte ich.
    »Ach«, erwiderte sie verärgert. »Für dich ist es ja alles schön und gut. Du kannst von Phantasien und Wahnvorstellungen und lauter solchen Dingen sprechen. Aber du kennst unsere Familie nicht; nicht wirklich. Du hast uns nur so erlebt. Noch vor einem Jahr waren wir ganz anders, da bin ich mir sicher. Seitdem hat sich etwas verändert – merkwürdige Dinge sind geschehen; alles Mögliche ist schiefgelaufen – derart schlimm und schnell. Da muss doch irgendetwas hinterstecken, siehst du das denn nicht?«
    Ihr Gesicht war jetzt weiß und verzerrt. Ich legte ihr die Hand auf den Arm.
    »Du bist übermüdet. Ihr seid alle müde und erschöpft.«
    »Das sagst du ständig.«
    »Leider ist es nun mal wahr!«
    »Aber das ist sicher mehr als bloße Müdigkeit. Warum kannst du das nicht einsehen?«
    »Ich sehe, was vor mir liegt!«, sagte ich. »Und daraus ziehe ich dann vernünftige Schlussfolgerungen. Das tun Ärzte nun mal.«
    Sie stieß einen Schrei aus, der halb Enttäuschung, halb Empörung war, doch diese Äußerung schien ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht zu haben. Sie bedeckte die Augen, blieb einen Moment lang starr und reglos sitzen und ließ dann die Schultern sinken.
    »Ich weiß es einfach nicht«, sagte sie. »Manchmal scheint es ganz klar und deutlich zu sein. Dann ist es wieder … einfach zu viel … Es ist alles einfach zu viel.«
    Ich zog sie an mich, um sie zu küssen und ihr über den Kopf zu streicheln. Dann sprach ich mit ruhiger Stimme auf sie ein.
    »Mein Liebling, es tut mir so leid. Ich weiß, es ist schwer für dich. Aber es hilft niemandem, am allerwenigsten deiner Mutter, wenn wir das offensichtliche Problem ignorieren. Anscheinend ist ihr alles zu viel geworden. Daran ist nichts Ungewöhnliches oder gar Übernatürliches. Ich vermute, sie hat versucht, sich in eine Zeit zurückzuversetzen, als das Leben noch einfacher für sie war. Wie oft hat sie schon voller Wehmut über die Vergangenheit gesprochen? Deine Schwester ist für sie zum Inbegriff all dessen geworden, was sie verloren hat. Ich denke schon, dass ihr Gemüt sich wieder beruhigen, dass ihr Geist sich aufklaren wird. Davon bin ich überzeugt. Und ich glaube auch, dass es ihr helfen würde, wenn das Anwesen wieder neuen Aufschwung bekommt …« Ich stockte einen Moment. »Wenn wir heiraten würden …«
    Sie entzog sich mir. »Ich kann doch nicht ans Heiraten denken, wenn meine Mutter in einem solchen Zustand ist!«
    »Aber es würde sie bestimmt beruhigen, wenn sie sieht, dass alles seinen geregelten Gang geht. Wenn sie sieht, dass du versorgt bist.«
    »Nein. Nein, das wäre nicht recht.«
    Einen Augenblick lang hatte ich mit meiner eigenen Enttäuschung zu kämpfen; dann sprach ich in wohl erwogenen Worten weiter. »Also gut. Aber deine Mutter wird von nun an umfassende Pflege brauchen. Sie wird unsere ganze Hilfe brauchen. Sie darf nicht noch zusätzlich durch irgendwelche albernen Phantasiegeschichten beunruhigt werden. Verstehst du mich, Caroline?«
    Nach kurzem Zögern schloss sie die Augen und nickte. Dann saßen wir schweigend da. Sie verschränkte die Arme, beugte sich in ihrem Sessel vor und starrte wieder ins Feuer, als grübelte sie über die Flammen nach.
    Ich blieb bei ihr, solange es mir möglich war, doch schließlich musste ich wieder zurück ins Krankenhaus. Ich riet ihr, sich auszuruhen, und versprach, gleich am nächsten Morgen als Erstes vorbeizuschauen. In der Zwischenzeit sollte sie mich anrufen, falls ihre Mutter übermäßig erregt oder verwirrt wirkte. Dann ging ich leise zurück in die Küche, um Betty und Mrs. Bazeley das Gleiche zu sagen – und fügte noch hinzu, dass sie auch Caroline im Auge behalten sollten,

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