Der Besucher - Roman
die Alte« zu sein – oder besser gesagt, sie verhielt sich genau wie sonst auch in letzter Zeit: »ziemlich still und ein wenig müde, zerstreut, aber ganz und gar nicht nervös oder verstört«. Nachdem das Abendessen abgeräumt worden war, blieben die beiden Frauen noch im kleinen Salon und hörten eine Musiksendung in dem knisternden kleinen Radio. Gegen neun brachte Betty ihnen heißen Kakao, danach lasen beziehungsweise nähten sie noch bis etwa halb elf. Erst da wurde ihre Mutter ein wenig unruhig, wie Caroline sagte. Sie trat an eines der Fenster, zog den Vorhang zurück und blickte über die schneebedeckte Rasenfläche. Einmal legte sie den Kopf schief und sagte: »Hörst du das, Caroline?« Caroline konnte allerdings nichts hören. Mrs. Ayres blieb am Fenster stehen, bis die kühle Zugluft sie wieder ans Feuer zurücktrieb. Der Anfall von Unruhe hatte sich anscheinend wieder gelegt; sie sprach über alltägliche Dinge, und ihre Stimme klang ruhig und fest; wieder schien sie »genau wie sonst« zu sein.
Tatsächlich erschien Mrs. Ayres Caroline so gefasst, dass es ihr beinahe peinlich war, als sie darauf bestehen musste, auch im Zimmer sitzen zu bleiben, als Mrs. Ayres schlafen gehen wollte. Sie erzählte, es habe ihrer Mutter missfallen, dass Caroline sich mit einer Decke auf einem nicht besonders bequemen Lehnstuhl niederließ, während sie selbst im Bett lag. Doch Caroline entgegnete ihrer Mutter bloß: »Dr. Faraday hat aber gesagt, dass es nötig ist«, und daraufhin hatte ihre Mutter lächelnd erwidert: »Das klingt ganz so, als ob ihr zwei schon verheiratet wärt!«
»Also bitte, Mutter!«, erwiderte Caroline verlegen. »Sei doch nicht albern!«
Dann hatte sie ihrer Mutter noch ein Veronal gegeben, und dank der schnellen Wirkung des Medikaments war Mrs. Ayres innerhalb weniger Minuten eingeschlafen. Caroline war einmal auf Zehenspitzen zu ihr hinübergeschlichen, um sich zu vergewissern, dass sie auch gut zugedeckt war, dann machte sie es sich wieder auf ihrem Sessel bequem, so gut es ging. Sie hatte sich eine Kanne Tee mitgebracht, ließ eine kleine Lampe brennen und war während der ersten paar Stunden zufrieden, ihr Buch zu lesen. Doch als ihre Augen irgendwann zu brennen anfingen, klappte sie das Buch zu, rauchte eine Zigarette und betrachtete ihre schlafende Mutter. Da ihre Gedanken nun durch nichts mehr abgelenkt wurden und freien Lauf hatten, malte sie sich in düsteren Farben aus, was am nächsten Tag geschehen würde und was ich alles vorhatte: David Graham hinzuzuziehen, ihre Mutter fortzubringen … Meine Besorgnis und mein Drängen hatten ihr zuvor Angst gemacht. Doch nun begann sie an mir zu zweifeln, und die alten Vorstellungen stiegen wieder in ihr auf: dass irgendetwas im Haus sei oder das Haus aufsuchte, was ihrer Familie Schaden zufügen wolle. Sie blickte durchs Halbdunkel zu ihrer Mutter hin, die schlaff in ihrem Bett lag, und sagte sich: Bestimmt hat er unrecht. Es kann gar nicht anders sein. Morgen früh sage ich ihm, dass ich es nicht zulasse, dass er sie mitnimmt – nicht so jedenfalls! Es ist einfach zu grausam. Ich werde sie selbst von hier fortbringen. Ich werde mit ihr weggehen, so schnell es geht. Dieses Haus ist es, was sie so quält! Ich bringe sie fort, und dann wird sie sich wieder erholen. Auch Roddie werde ich mitnehmen …!
So irrten ihre Gedanken umher, bis ihr Kopf so heiß lief wie eine überdrehte Maschine. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits einige Stunden verstrichen; sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es schon fast fünf Uhr früh war; weit nach Mitternacht, aber immer noch ein, zwei Stunden vor Anbruch der Dämmerung. Sie musste zur Toilette und wollte sich das Gesicht frisch machen. Ihre Mutter schlief offensichtlich immer noch tief und fest, also ging sie über die Empore, vorbei an der geschlossenen Tür zu Bettys Zimmer bis zum Bad. Da sie den Tee ausgetrunken hatte, ihre Augen aber immer noch brannten, wollte sie sich wach halten, indem sie eine weitere Zigarette rauchte. Das Päckchen in ihrer Jackentasche war leer, doch ihr fiel ein, dass sie ein weiteres in ihrer Nachttischschublade liegen hatte, und da sie von ihrem Schlafzimmer aus einen guten Blick über die Empore bis zum Zimmer ihrer Mutter hatte, ging sie dorthin, setzte sich auf ihr Bett und zündete sich eine Zigarette an. Um es ein wenig bequemer zu haben, streifte sie ihre Schuhe ab, legte die Beine aufs Bett und lehnte sich mit dem Aschenbecher auf dem Schoß an ihr Kissen.
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