Der Besucher - Roman
kann!«
Ich rannte die Treppe hinunter, stürmte in die Arzneimittelausgabe, um meine Tasche zu holen, und zog Mantel und Hut über. Mrs. Rush folgte mir besorgt. Sie war zwar daran gewöhnt, dass ich zu schwierigen Entbindungen und anderen Notfällen eilen musste, doch so hektisch und verwirrt hatte sie mich vermutlich noch nie erlebt. Nicht lange, und die ersten Patienten würden zu meiner Sprechstunde erscheinen; ich rief ihr noch hastig zu, dass sie ihnen sagen solle, zu warten, abends noch einmal wiederzukommen, anderswohin zu gehen – irgendwas eben. »Ja, das mache ich, Herr Doktor«, erwiderte sie und hielt mir eine Tasse hin. »Aber Sie haben noch gar nicht gefrühstückt! Trinken Sie doch wenigstens noch Ihren Tee aus!« Also blieb ich noch einen Moment stehen, kippte den heißen Tee hinunter und stürmte dann aus dem Haus zu meinem Auto.
Über Nacht hatte es wieder geschneit, zwar nicht übermäßig viel, doch genug, um die Fahrt nach Hundreds zu einem tückischen Unterfangen zu machen. Natürlich fuhr ich viel zu schnell, und das Auto geriet trotz der Schneeketten mehrmals ins Rutschen. Wäre mir in diesen Momenten ein anderes Fahrzeug begegnet, wäre es womöglich an diesem verhängnisvollen Tag noch zu einer weiteren Katastrophe gekommen, doch glücklicherweise hielt der Schnee die meisten Leute von den Straßen fern, und ich begegnete so gut wie niemandem. Während der Fahrt blickte ich ständig auf die Uhr und sah mit Schrecken, wie die Zeit verstrich. Ich glaube, noch nie ist mir eine Fahrt so lang und anstrengend vorgekommen wie diese; ich hatte das Gefühl, Meile um Meile mühevoll ausschwitzen zu müssen. Und am Tor zum Park musste ich dann das Auto endgültig stehen lassen und zu Fuß über den glatten Weg schliddern. In der Eile hatte ich meine normalen Straßenschuhe angezogen, und bereits nach einer Minute waren meine Füße durchnässt und eiskalt. Etwa auf halber Strecke rutschte ich aus und verstauchte mir den Knöchel, doch mir blieb keine Zeit, mich um die Schmerzen zu kümmern.
Betty stand schon an der Haustür, als ich humpelnd und keuchend näher kam, und an ihrer Miene sah ich, dass es tatsächlich so schlimm stand, wie ich befürchtet hatte. Als ich oben an der Treppe neben ihr ankam, schlug sie sich die kleinen, festen Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.
Ihre Hilflosigkeit brachte mich jedoch auch nicht weiter. Ungeduldig fragte ich: »Wo soll ich hin?« Sie schüttelte den Kopf, brachte aber keine Antwort hervor. Hinter ihr, im Haus, war alles still. Ich blickte ins Treppenhaus hinauf. »Oben? Sag schon!« Ich packte sie an den Schultern. »Wo ist Caroline? Wo ist Mrs. Ayres?«
Sie deutete unbestimmt ins Innere des Hauses. Ich hastete den Korridor entlang bis zur Tür des kleinen Salons, die angelehnt war. Mit klopfendem Herzen stieß ich sie auf.
Caroline saß allein auf dem Sofa. Als ich sie sah, stieß ich erleichtert hervor: »Gott sei Dank, Caroline! Ich dachte schon … Ach, ich weiß gar nicht, was ich erwartet habe!«
Dann bemerkte ich, wie eigenartig sie dasaß. Sie war weniger blass als vielmehr grau im Gesicht, zitterte aber nicht, sondern wirkte ziemlich ruhig. Als sie mich im Türrahmen stehen sah, hob sie kurz den Kopf, als würde meine Anwesenheit sie nur am Rande interessieren.
Ich lief zu ihr hin, nahm ihre Hand und fragte: »Was ist los? Was ist passiert? Wo ist deine Mutter?«
»Mutter ist oben«, erwiderte sie.
»Oben, ganz allein?«
Ich wandte mich zur Tür, doch sie hielt mich zurück. »Es ist zu spät«, sagte sie.
Und dann erzählte sie mir stückweise die ganze furchtbare Geschichte.
Sie war meinen Anweisungen gefolgt und hatte am Vorabend bei ihrer Mutter gesessen. Zuerst hatte sie ihr vorgelesen, und als Mrs. Ayres dann eingedöst war, hatte sie das Buch beiseitegelegt und sich von Betty ihre Näharbeiten bringen lassen. So hatten sie friedlich beieinandergesessen, bis Mrs. Ayres gegen sieben Uhr allein ins Badezimmer gegangen war. Caroline hielt es nicht für angebracht, sie dorthin zu begleiten, und gleich darauf kam ihre Mutter auch schon wieder heraus, hatte sich Gesicht und Hände gewaschen und sah »deutlich frischer« aus als zuvor. Sie bestand sogar darauf, sich zum Abendessen ein eleganteres Kleid anzuziehen. Wie so oft in letzter Zeit nahmen sie das Essen im kleinen Salon ein. Mrs. Ayres schien einen guten Appetit zu haben. Alarmiert durch meine Worte, behielt Caroline sie sehr genau im Blick, doch sie schien »ganz
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