Der Besucher - Roman
Ihre Schlafzimmertür stand ziemlich weit offen, und sie hatte freie Sicht bis zum Zimmer ihrer Mutter auf der anderen Seite der Empore. Diese Tatsache betonte sie immer wieder, als sie mir später von den Ereignissen berichtete. Wenn sie den Kopf nur ganz leicht drehte, so sagte sie, konnte sie durch das Halbdunkel tatsächlich das Fußteil des Bettes ihrer Mutter sehen. Im Haus war es so still, dass sie das regelmäßige Ein- und Ausatmen ihrer Mutter bis in ihr Schlafzimmer hören konnte.
Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass Betty mit dem Frühstückstablett neben ihrem Bett stand. Draußen auf dem Treppenabsatz stand auch ein Tablett mit Frühstück für Mrs. Ayres. Betty erkundigte sich, was sie damit machen solle.
»Was?«, fragte Caroline mit belegter Stimme. Sie war aus dem Tiefschlaf geweckt worden und begriff im ersten Moment gar nicht, weshalb sie nicht im warmen Bett lag, sondern vielmehr angezogen darauf, fröstelnd und mit einem überquellenden Aschenbecher auf dem Schoß. Sie richtete sich auf und rieb sich das Gesicht. »Bring doch meiner Mutter das Tablett ins Zimmer. Aber weck sie nicht auf, wenn sie schläft. Dann lass es lieber auf ihrem Nachttisch stehen.«
»Genau das isses ja, Miss«, erwiderte Betty. »Ich glaub, dass Madam immer noch schläft, ich hab nämlich ein paarmal geklopft, aber keiner hat geantwortet. Und reinbringen kann ich’s auch nich – die Tür is abgeschlossen.«
Da wurde Caroline schlagartig hellwach. Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits kurz nach acht war. Hinter den Vorhängen leuchtete helles Tageslicht – unnatürlich hell geradezu durch den Schnee. Beunruhigt und mit einem flauen Gefühl in der Magengrube erhob sie sich, zitternd wegen des Schlafmangels, und ging hastig über die Empore zum Zimmer ihrer Mutter. Genau wie Betty gesagt hatte, war die Tür verschlossen, und als sie anklopfte – zunächst sachte, dann immer lauter –, erhielt sie keine Antwort.
»Mutter!«, rief sie. »Mutter, bist du wach?«
Noch immer keine Antwort. Sie winkte Betty herbei. Konnte sie vielleicht irgendetwas hören? Betty lauschte und schüttelte dann den Kopf. Caroline sagte: »Wahrscheinlich schläft sie immer noch tief und fest. Aber die Tür … War die denn zugeschlossen, als du aufgestanden bist?«
»Ja, Miss.«
»Aber ich kann mich erinnern – ganz sicher –, dass beide Türen offen standen. Haben wir vielleicht einen Ersatzschlüssel für diese Tür?«
»Ich glaub nich, Miss.«
»Nein, ich auch nicht. Ach, Gott! Wieso habe ich sie bloß allein gelassen!«
Stärker fröstelnd klopfte sie wieder an die Tür, noch lauter als vorher. Wieder keine Antwort. Doch dann kam ihr der gleiche Gedanke wie Mrs. Ayres, als diese sich vor nicht allzu langer Zeit mit einer mysteriös verschlossenen Tür konfrontiert sah: Sie bückte sich und spähte durchs Schlüsselloch. Und sie war beruhigt, als sie feststellte, dass kein Schlüssel im Schloss steckte und es im Zimmer dahinter taghell war. Denn natürlich schloss sie daraus, dass ihre Mutter gar nicht im Zimmer war. Sie musste die Tür hinter sich abgeschlossen haben, als sie das Zimmer verließ, und den Schlüssel dann mitgenommen haben. Doch warum hätte sie das tun sollen? Das konnte Caroline sich nicht erklären. Sie richtete sich wieder auf und sagte mit mehr Überzeugung, als sie tatsächlich verspürte: »Ich glaube nicht, dass meine Mutter da drin ist, Betty. Sie ist bestimmt irgendwo im Haus unterwegs. Im kleinen Salon bist du wahrscheinlich schon gewesen, oder?«
»Oh ja, Miss. Da war ich schon und hab den Kamin angezündet.«
»In der Bibliothek ist sie wahrscheinlich eher nicht. Und nach oben wird sie doch wohl auch nicht gegangen sein, oder?«
Sie und Betty starrten einander an und dachten vermutlich beide an jenes grausige Ereignis, das vor ein paar Wochen geschehen war.
»Ich gehe lieber mal hoch und schaue nach«, sagte Caroline schließlich. »Warte hier auf mich. – Nein, lieber doch nicht. Sieh lieber noch mal in allen Zimmern auf diesem Stockwerk nach, und dann such noch mal unten. Vielleicht ist meiner Mutter ja irgendwas zugestoßen, womöglich ist sie gestürzt.«
Sie liefen in verschiedene Richtungen auseinander; Caroline eilte nach oben, probierte es mühevoll an jeder Tür und rief nach ihrer Mutter. Die dunklen Flure schreckten sie nicht. Sie fand die Kinderzimmer genau wie ich düster und trostlos, aber leer vor. Endlich musste sie sich geschlagen geben und
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