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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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gesunken. Ihr Gesicht war hinter ihrer offenen grauen Haarmähne verborgen, doch als die beiden Frauen die Tür noch weiter aufstießen, kippte ihr Kopf locker zur Seite, und da sahen sie, was geschehen war.
    Sie hatte sich mit dem Gürtel ihres Morgenmantels an einem alten Messinghaken auf der Rückseite der Tür erhängt.
    Es folgten etliche furchtbare Minuten, in denen sie versuchten, sie vom Haken zu befreien, sie zu wärmen und wiederzubeleben. Der Gürtel hatte sich durch das daran hängende Gewicht so eng zusammengezogen, dass sie ihn gar nicht aufknoten konnten. Betty musste erst losrennen und eine Schere holen; und als sie mit der Küchenschere zurückkehrte, stellten sie fest, dass die Klingen so stumpf waren, dass sie den dicken geflochtenen Seidengürtel nicht einfach durchtrennen konnten, sondern mühevoll durchsägen mussten, bis er immer fransiger wurde, und dann mussten sie den Gürtel regelrecht aus dem geschwollenen Fleisch ihres Halses lösen. Ein Gehängter ist immer eine besonders unschöne Erscheinung – und auch Mrs. Ayres bildete da keine Ausnahme; sie sah schrecklich aus, aufgedunsen und dunkel verfärbt. Sie war offensichtlich schon seit einiger Zeit tot – ihr Körper fühlte sich bereits kalt an –, doch Betty zufolge, mit der ich später sprach, hatte Caroline sich zunächst noch über sie gebeugt, sie geschüttelt und mit tadelnder Stimme auf sie eingeredet, sie solle sich doch bitte zusammennehmen und endlich aufwachen.
    »Sie wusst gar nich, was sie da gesagt hat«, meinte Betty später, während sie am Küchentisch saß und sich die Augen wischte. »Sie hat sie immer weiter geschüttelt, bis ich gesagt hab, dass wir sie vielleicht besser aufs Bett tragen sollten. Also ham wir Madam zusammen hochgehoben …« Sie bedeckte das Gesicht. »Oh, Gott, es war einfach schrecklich. Sie is uns immer wieder aus den Armen geglitten, und jedes Mal hat Miss Caroline zu ihr gesagt, sie soll sich nich so albern anstellen, so als hätt Madam irgendwas ganz Normales getan – als hätt sie bloß ihre Brille verlegt oder so was. Wir ham sie dann aufs Bett gelegt, und sie sah noch schlimmer aus als vorher, auf dem weißen Kissen, doch Miss Caroline hat sich immer noch so benommen, als würd sie das gar nich sehen. Also hab ich gesagt: ›Sollten wir nich jemanden rufen, Miss? Sollten wir nich lieber Dr. Faraday anrufen?‹ Und sie hat gesagt: ›Ja, ruf den Doktor an. Er wird sich schon um meine Mutter kümmern.‹ Und als ich dann zur Tür ging, hat sie mir noch hinterhergerufen, plötzlich in so nem ganz anderen Tonfall: ›Aber sag ihm bloß nicht, was passiert ist! Nicht am Telefon! Mutter würde nicht wollen, dass jeder es erfährt. Sag ihm, es hätte einen Unfall gegeben!‹
    Und danach, wissen Sie, Herr Doktor, da muss sie wohl drüber nachgedacht haben, was sie da gesagt hat. Als ich wieder rein bin, hat sie ganz still an der Bettkante gesessen, hat mich nur angeschaut und gesagt: ›Sie is tot, Betty!‹, so als wenn ich das nich schon längst selbst gemerkt hätt. Ich sagte: ›Ja, Miss, ich weiß – und es tut mir so furchtbar leid.‹ Und dann blieben wir einfach da im Zimmer, wir beide, und wussten nich, was wir tun sollten … Doch dann hab ich Angst gekriegt. Ich hab ganz furchtbare Angst gekriegt. Ich hab Miss Caroline am Arm gezogen. Und sie is aufgestanden wie ne Schlafwandlerin. Und wir sind zusammen rausgegangen, und ich hab die Tür zugemacht und abgeschlossen. Und jetzt kommt’s mir so schrecklich vor, dass wir die arme Mrs. Ayres ganz allein da drin gelassen ham. Sie war so eine nette Dame, und sie is immer freundlich zu mir gewesen … Und dann is mir wieder eingefallen, wie wir noch kurz davor vor der Tür gestanden ham und uns gefragt ham, wo sie sein könnt, und nichts davon geahnt ham, und dann ham wir durchs Schlüsselloch gespäht – und dabei hat sie doch die ganze Zeit über auf der anderen Seite … Ach!« Sie brach wieder in Tränen aus. »Warum hat sie sich bloß so was Schreckliches angetan, Dr. Faraday? Warum bloß?«
    Sie erzählte mir das alles etwa eine gute Stunde nach meinem Eintreffen im Haus, und inzwischen war ich schon selbst in Mrs. Ayres’ Zimmer gewesen. Ich hatte mich auf das Schlimmste gefasst gemacht, als ich mit der Hand am Schlüssel vor der Tür stand. Ich dachte daran, wie Caroline vor mir versucht hatte, die Tür aufzustoßen, und sie blockiert fand … Als ich Mrs. Ayres’ aufgedunsenes, dunkel angelaufenes Gesicht sah, schauderte ich.

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