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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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ihren Lauf lassen, bis sie alles dominieren? Soll ich morgen früh mitkommen und Ihnen zur Seite stehen? Das tue ich gern.«
    »Nein, nein«, erwiderte ich. »Graham wird mitkommen. Ich wollte mich nur noch mal rückversichern … Aber Seeley, warten Sie noch.« Er machte gerade Anstalten aufzulegen. »Da ist noch etwas. Als wir uns das letzte Mal getroffen haben – erinnern Sie sich noch, worüber wir da geredet haben?«
    Nach kurzem Schweigen erwiderte er: »Sie meinen diesen Quatsch von Myers?«
    »War es denn Quatsch? Meinen Sie nicht … Seeley, ich habe so ein ungutes Gefühl … Ich …«
    Er wartete ab. Und als ich meinen Satz nicht zu Ende brachte, sagte er mit fester Stimme: »Sie haben getan, was Sie konnten. Jetzt quälen Sie sich nicht weiter mit irgendwelchen spinnerten Ideen. Denken Sie daran, was ich Ihnen neulich schon gesagt habe: Hier geht es vor allem um die Suche nach Aufmerksamkeit. So einfach ist das. Unsere Patientin mag auf stur schalten, wenn es hart auf hart kommt. Aber in Wahrheit geben Sie ihr nur, was sie sich im tiefsten Innern ersehnt. Und jetzt legen Sie sich hin und sehen zu, dass Sie gut schlafen – und grübeln Sie nicht weiter darüber nach!«
    Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich wohl genau das Gleiche zu ihm gesagt. Doch ich ging nach oben, immer noch nicht recht überzeugt, trank ein Glas Brandy und rauchte eine Zigarette. Ohne großen Appetit verzehrte ich mein Abendessen und machte mich anschließend in düsterer Stimmung auf den Weg nach Leamington.
    Geistesabwesend brachte ich meine Arbeit im Krankenhaus hinter mich, und als ich kurz vor Mitternacht nach Hause fuhr, war ich immer noch bedrückt. Ganz so, als ob der Gedanke an Caroline und ihre Mutter eine Art magnetische Anziehung auf mich ausübte, nahm ich versehentlich die falsche Abzweigung, die von Lidcote wegführte, und fand mich eine Meile vor der Zufahrt nach Hundreds wieder, ehe mir mein Fehler bewusst wurde. Die geisterhafte Fahlheit der verschneiten Landschaft trug ein Übriges zu meinem Unbehagen bei. In meinem schwarzen Auto hatte ich das Gefühl, weithin sichtbar zu sein. Einen Moment lang zog ich tatsächlich in Betracht, bis zum Herrenhaus weiterzufahren, doch dann wurde mir klar, dass mein später Besuch nur Unruhe verursachen und niemandem nützen würde. Also wendete ich das Auto – und starrte währenddessen über die bleiche Landschaft, als würde ich Ausschau halten nach einem Licht oder irgendeinem anderen unwahrscheinlichen Zeichen von Hundreds, das mir zu verstehen gab, dass alles in Ordnung sei.
     
    Der Anruf kam am nächsten Morgen, als ich mich nach unruhiger Nacht gerade an den Frühstückstisch gesetzt hatte. Solche frühen Anrufe waren an sich nichts Ungewöhnliches, denn oft meldeten sich um diese Zeit Patienten und baten darum, dass ich auf meiner Runde noch bei ihnen vorbeikam. Doch da ich ohnehin schon in einem überreizten Zustand war und an den schwierigen Tag dachte, der vor mir lag, lauschte ich angespannt, als meine Haushälterin ans Telefon ging. Gleich darauf kehrte sie mit besorgtem Gesichtsausdruck zurück.
    »Verzeihen Sie, Herr Doktor«, sagte sie. »Aber da möchte jemand mit Ihnen persönlich sprechen. Ich habe sie kaum verstehen können. Aber ich glaube, sie sagte, dass sie von Hundreds anruft …«
    Ich ließ Messer und Gabel fallen und rannte in den Eingangsflur.
    »Caroline«, rief ich außer Atem in den Hörer. »Caroline, bist du das?«
    »Herr Doktor?« Die Verbindung war sehr schlecht, vermutlich wegen des Schnees, doch ich hörte sofort, dass nicht Caroline am Apparat war. Die Stimme klang schrill und hoch wie die eines Kindes und wurde von Schluchzern unterbrochen. »Ach, Herr Doktor, können Sie herkommen? Ich soll Ihnen ausrichten, Sie sollen bitte herkommen. Ich soll Ihnen sagen …«
    Es war Betty, doch ihre Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne, und wurde immer wieder von Schnaufen und Schluchzern unterbrochen. Ich hörte sie wieder sagen: »Ich soll Ihnen sagen … ein Unfall …«
    »Ein Unfall?« Mein Herz zog sich zusammen. »Wer ist verletzt? Caroline? Was ist passiert?«
    »Ach, Herr Doktor, es …«
    »Himmelherrgott noch mal!«, schrie ich. »Ich kann dich kaum verstehen! Was ist denn passiert?«
    Dann erklang ihre Stimme plötzlich ungewöhnlich klar: »Ach, Dr. Faraday, sie hat gesagt, ich soll’s nich sagen!«
    Und da wurde mir klar, dass es schlimm stehen musste.
    »Gut«, rief ich. »Ich komme. Ich komme, so schnell ich

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