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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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wie eh und je. Ich wollte nicht nach Hause, in das leere Schlafzimmer in einem beengten, freudlosen Heim. Ich wollte Caroline; ich wollte Caroline und konnte sie nicht haben. Inzwischen befand ich mich auf der Straße nach Hundreds, und als ich daran dachte, dass sie so nah war und dennoch für immer verloren sein sollte, begann ich zu zittern. Ich musste die Zigarette wegwerfen und das Auto anhalten, bis meine Gemütslage sich ein wenig beruhigt hatte. Doch ich konnte es immer noch nicht ertragen, nach Hause zurückzufahren. Langsam fuhr ich weiter und hatte bald die Abzweigung erreicht, die zu jenem schattigen, überwucherten Teich führte. Ich bog ab, holperte den Waldweg entlang und hielt an der Stelle, wo Caroline und ich in jener Nacht geparkt hatten, als ich versucht hatte, sie zu küssen, und sie mich zum ersten Mal von sich gestoßen hatte.
    Der Mond schien hell und klar; die Bäume warfen Schatten, und das Wasser glänzte milchweiß. Die ganze Szenerie wirkte wie ein verfremdetes Foto ihrer selbst – seltsam belichtet und etwas unwirklich. Ich starrte hinaus, und die Landschaft schien mich aufzusaugen; ich hatte das Gefühl, außerhalb von Zeit und Raum zu stehen, ein Fremdling. Ich glaube, ich rauchte noch eine Zigarette. Ich weiß noch, dass mir gleich darauf kalt wurde und ich auf der Rückbank nach der alten roten Wolldecke suchte, die ich immer im Auto bewahrte, der Decke, in die ich einst Caroline gewickelt hatte. Nun hüllte ich mich selbst darin ein. Ich fühlte mich in keiner Weise müde oder erschöpft im gewöhnlichen Sinne, sondern rechnete eher damit, den Rest der Nacht dort wach zu verbringen. Doch als ich mich zur Seite drehte, die Beine anzog und die Wange an die Lehne des Sitzes legte, fiel ich beinahe augenblicklich in einen unruhigen, leichten Schlaf. Und in diesem Schlummer war es mir, als würde ich aus dem Auto steigen und nach Hundreds weitergehen. Ich sah mich selbst dabei, mit der gleichen fiebrigen, unnatürlichen Klarheit, mit der ich mich kurz zuvor an die hektische Fahrt ins Krankenhaus erinnert hatte. Ich sah mich, wie ich die silbrige Landschaft durchquerte und wie Rauch durch das Tor von Hundreds schwebte. Ich sah, wie ich die Zufahrt nach Hundreds entlangging. Doch dann ergriffen mich Panik und Verwirrung, denn der Weg war plötzlich anders, seltsam und falsch, unvorstellbar lang und verschlungen, und am Ende wartete nichts als Dunkelheit.
     
    Ich erwachte bei Tageslicht mit völlig verkrampften Gliedern. Es war kurz nach sechs. Kondenswasser lief an den Autofenstern herab, mein Kopf fühlte sich kahl an: Mein Hut war zwischen Schulter und Sitz gerutscht und so zerdrückt, dass er kaum mehr zu retten war. Die Decke war um meine Taille gewurstelt, als hätte ich damit gerungen. Ich machte die Tür auf, um frische Luft hereinzulassen, und stieg mit steifen Gliedern aus dem Wagen. Am Boden raschelte es, erst dachte ich an Ratten, doch tatsächlich handelte es sich um ein Igelpaar, das an den Autoreifen geschnüffelt hatte und nun eilig im hohen Gras verschwand. Es hinterließ dunkle Spuren auf dem taufeuchten Gras. Über dem Teich hingen dünne Nebelschwaden – das Wasser war jetzt grau statt weiß; der Ort hatte den träumerischen Anschein verloren, den er in den frühen Morgenstunden gehabt hatte. Ich fühlte mich eher wie nach einem heftigen Bombenangriff in der Stadt, wenn man blinzelnd aus dem Luftschutzkeller steigt und sieht, dass die Häuser zwar getroffen wurden, aber immer noch stehen, während es einem inmitten der Bombardements doch so schien, als würde die ganze Welt in Stücke gesprengt.
    Ich fühlte mich weniger benommen als vielmehr leer und verbraucht. Die leidenschaftlichen Gefühle waren verschwunden. Ich sehnte mich nach Kaffee und einer Rasur, und ich musste dringend austreten. Ich begab mich hinter ein Gebüsch und erledigte das, dann kämmte ich mir die Haare und bemühte mich, meine zerknautschte Kleidung wieder zu glätten. Ich versuchte das Auto anzulassen. In der feuchten Kälte wollte der Motor zuerst nicht anspringen, doch nachdem ich die Motorhaube geöffnet und die Zündkerzen abgewischt hatte, schaffte ich es doch – laut dröhnte der Motor aus der offenen Haube und schreckte die Vögel auf. Ich fuhr über den Waldweg zurück, folgte ein Stück der Straße nach Hundreds und bog dann in Richtung Lidcote ab. Auf dem Weg begegnete mir niemand, doch das Dorf wurde gerade wach. Die arbeitenden Familien regten sich schon; der Schornstein der

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