Der Beutegaenger
leidgetan. Das Zimmer, das er ihr gezeigt hatte, war so dunkel gewesen ...
Warum machst du denn die Rollläden nicht hoch?
Ich kann so besser arbeiten.
Was arbeiten? Für die Schule?
Lachen. Nein. Nicht für die Schule. Ich schreibe.
Du schreibst?
Ja, Gedichte. Willst du sie lesen?
Sie sieht wieder nach dem Umzugswagen. Tante Louise wartet an der Mauer neben den Mülltonnen und verfolgt ihren Auszug. Wie ein Wächter an einem mittelalterlichen Stadttor steht sie dort, die Hände in die Hüften gestemmt. Jede Faser ihres Körpers drückt Entschlossenheit aus. Nur ihre Stirn hat eine tiefe neue Falte. Für einen flüchtigen Augenblick fällt ihr Blick herüber. Sie lächelt. Sei nur ganz ruhig, sagen die braunen Augen, die sie später so sehr vermissen wird. Es ist vorbei. Zwei Männer in grauen Overalls bringen sein Bett. Es ist schmal und hat einen dunklen Rahmen aus Messing. Von ihm selbst ist nichts zu sehen. Er versteckt sich. Versteckt sich irgendwo vor der Erkenntnis, dass es vorbei ist. Vielleicht platziert er auch ein Abschiedsgeschenk. Eine tote Katze ...
Ich habe sie für dich geschrieben.
Was?
Die Gedichte. Gefallen sie dir?
Nein.
Dann mache ich dir neue!
Sie kommen mit der Post, eines Tages. Seine neuen Gedichte. Von gegenüber mit der Post. Das allein ist schon absurd! Ihr Name und die Adresse stehen auf dem mauvefarbenen Umschlag und geben ihr das eigenartige Gefühl, verraten worden zu sein. Name und Adresse prangen genau in der Mitte des Kuverts, ihre Daten, ihr Eigentum. Die Schrift, so schön wie sein Gesicht. Keine Rosen dieses Mal. Die Blumen stecken in den Worten. Natürlich kann sie auch die Worte wegwerfen, das mauvefarbene Briefpapier in tausend Stücke reißen, aber sie hinterlassen eine Spur. Die Worte hinterlassen eine brennende Spur in ihrem Gedächtnis und fressen sich dort fest. Das weiß er. Darauf spekuliert er. Darum stecken seine Blumen jetzt in Versen.
Papa, was ist das für Tinte?
Ihr Vater sieht sie nicht an. »Das reicht jetzt«, sagt er anstelle einer Antwort.
Du inspirierst mich.
»Der Junge ist hochbegabt.« Der Lehrer, dem ihr Vater den Briefbogen auf den Schreibtisch geknallt hat, blickt aus dem Fenster in den Garten hinaus, in dem die letzten Rosen blühen. »Es ist der Tod der Mutter«, sagt er. »Der Junge verarbeitet das auf seine Weise.«
»Nicht mit meiner Tochter«, sagt ihr Vater.
Er hat diesen Dreck mit Blut geschrieben.
Seine Mutter hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Erfand sie auf der Couch. Verblutet. Da war er neun. Ein Kind.
Das werde ich nicht dulden!
Der Lehrer blickt aus dem Fenster. Ob er beunruhigt ist, bleibt sein Geheimnis.
»Haben Sie den Titel gesehen?« Der Finger ihres Vaters pocht auf den Schreibtisch. »Er nennt diesen Schund ein Requiem!«
Sie starrt auf die Straße hinaus. Umzugskisten folgen demBett. In den Kisten seine Sachen. Sie verschwinden nach und nach im Bauch des großen roten Umzugswagens, der vor dem Haus steht und die Erlösung bringt. Tante Louise überwacht ihren Abtransport. Deswegen steht sie dort unten an der Mauer, neben den Mülltonnen. Es soll nichts von ihm zurückbleiben. »Er ist noch ein Kind«, sagt sein Lehrer, aber das stimmt nicht. Er ist kein Kind. Tante Louise weiß das.
Wusste es ...
Sie schloss die Augen. Er war kein Kind gewesen, und es war nicht vorbei. Das sollte sie nur glauben. Sie sollte in die Falle gehen. Seine Falle. Aber sie dachte gar nicht daran! Sicherheit war nichts als eine Illusion, die davon abhing, ob man sie sich gestattete. Aber das würde sie nicht. Sie würde sich nicht beruhigen. Sie würde nicht nachlässig werden. Niemals .
Sie trat vom Fenster weg und ging langsam durch ihr Haus, durch alle Zimmer. Sie betrachtete jedes Schloss, jedes Fenster, jeden Riegel eingehend, bevor sie die Rollläden herunterließ. Im Flur verweilte sie einige Augenblicke und starrte die Haustür an, die luftdicht mit der Wand abschloss. Ihr Blick fiel auf den Briefschlitz, und fast kam es ihr vor, als wehte ein Hauch von Rosenduft von dort zu ihr herüber ...
In der Angestelltentoilette des Senioren- und Pflegeheims Geschwister-Leuthauser-Stiftung schlüpfte Susanne Leistner in ihren Jogginganzug und band ihr langes blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dabei vermied sie es sorgfältig, ihr Gesicht, das ihr im gnadenlosen Neonlicht des fensterlosen Raums fahl und abgekämpft aus dem Spiegel entgegenblickte, länger als nötig zu betrachten.
So, wie ihr Leben in
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