Der Beutegaenger
ein alter Nazi aussah. Seine Gesichtszüge verrieten Anspannung. Er befand sich selbst nur wenige Jahre vor der Pensionierung und war schon lange vor Grovius’ Tod entschlossen gewesen, diese auch zu erleben. Jetzt schien er noch entschlossener. Seine kräftigen Kiefer mahlten unablässig. Als sich ihre Blicke trafen, schaute er weg.
In einiger Entfernung zu den Trauernden standen zwei alte Frauen und reckten die Hälse. Verhoeven nahm sie nur schemenhaft wahr, aber ihr aufdringliches Interesse störte ihn trotzdem. Es gab einfach Dinge, aus denen man sich heraushielt. Die zu privat waren, um sie mit Fremden zuteilen. Mit Unbeteiligten. Er versuchte, die Gesichter der Frauen zu erkennen, beigefarbene Flecken vor einem dunkleren Hintergrund. Vielleicht war es zu lange her, dass sie selbst jemanden begraben hatten. Oder es hatte ihnen nie etwas ausgemacht, in ihrem Schmerz beobachtet zu werden. Dennoch, am liebsten wäre er hinübergegangen und hätte sie zur Rede gestellt.
Du musst dich zusammenreißen, dachte er, schließlich bist du kein Kind mehr. Nicht dieses Mal. Ich kann allein nicht gehen , spielte das Cello, eine bleistiftdünne junge Frau in einerdunkelgrünen Samtjacke, von der äußeren Erscheinung her geradezu ideal für Begräbnisse. Nicht einen Schritt. Er senkte den Kopf und blickte auf seine Schuhspitzen hinunter. Sofort verstärkte sich der Druck von Silvies Fingern auf seinem Arm. Seine Frau trug ein schlichtes schwarzes Etuikleid, in dem sie hinreißend aussah, und hatte sich bei ihm untergehakt. Nicht Schutz suchend, sondern beruhigend. Warm und vertraut. Hin und wieder warf sie ihm aus ihren großen tiefdunkelblauen Augen einen prüfenden Seitenblick zu. Sie wartet darauf, dass ich weine, dachte er. Alle warten darauf. Wie nimmt es Verhoeven? Den Tod seines Mentors. Seines Förderers . . .
Er konnte den Ausdruck »väterlicher Freund« nicht ausstehen, aber er umschrieb besser als jeder andere, was ihn mit Karl Grovius verbunden hatte. Grovius war der Vater gewesen, den er sich immer gewünscht hatte. Insgesamt eher klein als stattlich und mit einem Haufen Sommersprossen unter den rotblonden Haaren, war er doch stets so etwas wie ein Leuchtturm in den Wirren des Lebens gewesen. Einer, nach dem man sich richten konnte. Ein Navigator. Verhoeven lächelte, als ihm die Uhr einfiel, die Grovius ihm zur Hochzeit geschenkt hatte und die zugleich ein kleiner Kompass war. Er trug sie nur selten, weil er Angst hatte, sie zu verlieren. Stattdessen lag sie in der Schublade seines Nachtschranks, in einem soliden schwarzen Hartschalenetui.
Das Cello hatte eine Pause eingelegt, und Hinnrichs hielt die unausweichliche Grabrede. Er hatte Verhoeven gefragt, ob er ein paar Worte sagen wolle, aber Verhoeven hatte abgelehnt. Stattdessen sprach nun also Hinnrichs. Er war ein guter Redner. Charmant und eloquent verpackte er ein ganzes Leben in wenigen Sätzen. Ein guter Polizist. Hart, aber fair. Zweimal verheiratet, ebenso oft geschieden. Sohn und Tochter aus erster Ehe.
Verhoeven bewegte die Finger seiner linken Hand, die sicheiskalt anfühlten und einzuschlafen drohten. Es wunderte ihn nicht, dass Grovius’ erste Frau der Trauerfeier ferngeblieben war. Sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt, nachdem Holger, Grovius’ Sohn, an seinem achtzehnten Geburtstag beschlossen hatte, seinen Vater nicht länger treffen zu wollen. Er müsste jetzt ungefähr in meinem Alter sein, dachte Verhoeven, und etwas an diesem Gedanken befremdete ihn. Holgers Schwester dagegen hatte es nicht sehr lange an diesem ungastlichen Ort ausgehalten. Plötzlicher Kindstod mit gerade einmal drei Monaten. Sie hatte ein Kindergrab irgendwo in einem anderen Teil des Friedhofs, und obwohl Grovius nie darüber gesprochen hatte, war Verhoeven den Eindruck nicht losgeworden, dass es letztendlich dieser Schicksalsschlag gewesen war, der die erste Ehe seines Kollegen zerstört hatte. Seither baute er darauf, dass es einer gravierenden Änderung der Verhältnisse bedurfte, damit eine Ehe kaputtging. Er wandte den Kopf und betrachtete Silvies Profil. Sie merkte es und lächelte ihn an. Er war froh darüber. Ihr Lächeln war wie ein Sonnenstrahl mitten in der Tristesse des Herbstnachmittags. Wir sind jung, dachte Verhoeven. Wir lieben einander. Haben eine gesunde Tochter. Und dank der Erbschaft, die Silvie vor zwei Jahren gemacht hat, haben wir sogar ein eigenes Haus. Wir werden einander nicht verlieren!
Susanne Leistner lenkte
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