Der Beutegaenger
und las jedes Buch über frühkindliche Entwicklung, das er in die Finger bekam. Susanne hingegen war schon bald nach der Geburt wieder zur Arbeit gegangen. Sie verließ morgens um kurz nach acht das Haus, kehrte gegen fünf zurück und hatte das Gefühl, dass ihr Kind ihr mit jedem Tag fremder wurde, obwohl Gernot sie durchaus auf dem Laufenden hielt. Sie wurde informiert, dass Amelie zum ersten Mal das Köpfchen gehoben hatte, dass sie anfing, sich am Gitter ihres Bettchens hochzuziehen, dass sie zahnte und ihre ersten Worte sprach. Susanne hörte von den Fortschritten ihrer Tochter, wie sie abends in der Tagesschau von den neuesten Entwicklungen in der Weltpolitik erfuhr, und tief in ihrem Inneren hatte sie das beklemmende Gefühl, auf das eine so wenig Einfluss nehmen zu können wie auf das andere. Es war ein Gefühl von Machtlosigkeit, das sich in ihr festgesetzt hatte. Von Fremdheit. Von Ausgeschlossensein. Und irgendwann, zu einem Zeitpunkt, als dieses Gefühl überhandzunehmen drohte, hatte sie mit dem Laufen begonnen ...
»Macht ihr eine Party?«
Irritiert blickte sie auf. »Was?«
»Nächste Woche. Zu Amelies Geburtstag.« Monika Gerling schien ihr aus dem Spiegel direkt in die Seele zu blicken.
Sie weiß genau, dass ich keine Ahnung habe, dachte Susanne. Keine Ahnung und noch immer kein Geschenk. »Sicher«, entgegnete sie leichthin, indem sie sich demonstrativ abwandte. »Gernot macht seine berühmte Bananentorte. Und meine Schwiegereltern kommen zu Besuch.«
Idiotischerweise musste sie ausgerechnet jetzt wieder an den Tag denken, den sie eigentlich komplett aus ihrem Gedächtnis hatte streichen wollen. Jenen Tag, an dem sie nach der Arbeit in die Stadt gefahren war, um eine Stoffkuh für ihre Tochter zu kaufen. In Amelies zweitem Sommer hatten sie eine Woche Urlaub auf einem kleinen Bauernhof in Schleswig-Holstein gemacht, und Amelie war glucksend und quietschend vor Vergnügen zwischen Gänsen, Enten und Ziegen herumgetollt. Aber am meisten hatte sie die Kühe gemocht, dessen war sich Susanne ganz sicher. Sie erinnerte sich gut daran, wie erstaunt sie gewesen war, dass ihre Tochter keinerlei Angst vor diesen großen Tieren gezeigt hatte. Im Gegenteil: Amelie hatte mit ihren kleinen Fingerchen auf die Weide gezeigt und gestrahlt. Deshalb hatte es ja so unbedingt eine Kuh sein müssen. Keine Puppe und kein Teddy, sondern eine Kuh. Sie war in drei Geschäften gewesen, bevor sie eine entdeckt hatte, die man auch als solche erkennen konnte. Die nicht lila oder hellblau oder gelb war, sondern weiß mit schwarzen Flecken und einem Euter aus rosa Filz.
Als sie mit ihrem Geschenk nach Hause gekommen war, hatte Amelie in ihrem Laufstall gesessen und gespielt, während ihr Vater im Sessel neben ihr eingenickt war, ein Manuskript auf den Knien. Susanne hatte die Kuh so leise wie möglich aus der Plastiktüte genommen und sie zu ihrer Tochter in den Laufstall gesetzt. Und Amelie hatte zu weinen begonnen. Sie war rot angelaufen und hatte geschrien wie amSpieß, während ihr schier endlose Bäche dicker Tränen über die rosigen Wangen geflossen waren. Von ihrem Geschrei war Gernot aufgewacht. Er hatte seine Tochter auf den Arm genommen und seiner Frau erklärt, dass es für Kinder in Amelies Alter völlig normal sei, sich vor allem Unbekannten zu fürchten, und dass Amelie die Kuh, die sie gekauft hatte, bestimmt heiß und innig lieben werde, wenn sie sich erst einmal daran gewöhnt hatte.
»Du hast wirklich Glück, dass dir dein Mann so unter die Arme greift.« Monika Gerlings Blick brannte in ihrem Rücken.
»Ja«, sagte Susanne. »Ich weiß.« Dann warf sie sich die dunkelblaue Sporttasche mit ihrer Bürokleidung über die Schulter, schlängelte sich ohne ein weiteres Wort an ihrer Kollegin vorbei und ging den Gang hinunter zum Fahrstuhl.
Er sah sie aus der Tür treten. Sie trug ihren Jogginganzug und warf einen zweifelnden Blick in den bleigrauen Himmel. Vielleicht überlegte sie, ob sie sich und ihren Schuhen eine Runde auf den matschigen Waldwegen zumuten sollte. Immerhin hatte es in den vergangenen Tagen fast ununterbrochen geregnet. Ein milder, ergiebiger Landregen. Erst vor wenigen Stunden hatte es aufgehört.
Sie sah müde und entnervt aus.
Jetzt ging sie quer über den Parkplatz zu ihrem Wagen, einem cognacfarbenen Passat. Sie ließ ihre Sporttasche auf den nassen Asphalt fallen und suchte eine Weile nach den Schlüsseln, dann öffnete sie den Kofferraum und stellte die Tasche
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