Der Beutegaenger
Küchenschrank stand, und wartete auf eine Reaktion, ohne dem Einwand ihrer Mutter auch nur die geringste Beachtung zu schenken. »Außerdem habe ich Melanie schon erzählt, dass du mitkommst«, startete sie einen neuen Versuch. »Und ich bin doch eine Glockenblume.«
Er wandte sich um und beugte sich zu seiner Tochter hinunter. »Pass auf, Schatz, als Wiedergutmachung gehen wir am Samstag alle zusammen in den Zoo. Okay?«
»Aber das ist nicht dasselbe«, insistierte die Kleine.
»Nein«, gab er zu, verwundert, dass sie in der Lage war , die Nuancen zu erkennen. Immerhin waren ihre Gene zur Hälfte die seiner Frau. »Das ist nicht dasselbe. Aber, weißt du, manchmal ist man im Leben gezwungen, seine Pläne zu ändern.«
Sie war nicht glücklich mit dieser Antwort, das konnte er sehen, aber sie sagte auch nichts mehr. Vielleicht traute sie sich nicht, etwas zu sagen. Oder ihr fiel auf die Schnelle nichts Passendes ein. Stattdessen setzte sie sich wieder auf den Stuhl neben ihrer Mutter, schob die Unterlippe vor und schwieg.
Erst als er die Treppe hinaufstieg, konnte er sie wieder hören. Sie plapperte über den bevorstehenden Zoobesuch und schien jetzt ganz zufrieden mit der Aussicht auf Löwen und Elefanten und ein Himbeereis an dem kleinen Kiosk gegenüber dem Affengehege. Keine Glockenblume mehr. Melanie, ade. Er nickte. Wer sagte denn, dass nicht auch Kinder bestechlich waren?
Seine Frau hörte zu und beschränkte sich auf knappe, zustimmende Kommentare, ganz wie sie es immer tat. Ob sie ein Kostüm genäht hatte, ein Glockenblumenkostüm? Sie würde bei der Glockenblumenaufführung in der ersten Reihe sitzen, und bestimmt würde sie Fotos machen, die sie irgendwann kommentarlos auf den Frühstückstisch legte, direkt neben seinen Teller. Fotos von Kindern, die er nicht kennenlernen wollte, und von Kostümen, die er sich nicht vorstellen konnte. Er würde diese Fotos mit zur Arbeit nehmen und herumzeigen, ganz wie sonst auch. Die meisten Leute glaubten, was sie sahen. Das war der Vorteil. Sie würden die Tochter glauben und sogar die Glockenblume.
Auf dem oberen Treppenabsatz verharrte er einen Augenblick und lauschte. Erst als er sich ganz sicher war, dass sie ihm nicht folgten, öffnete er die Tür zum Schlafzimmer, wo sein halb gepackter Handkoffer auf dem Bett lag. Er zog einen flachen Karton aus seiner Aktentasche, von der er wusste, dass seine Frau sie niemals anrühren würde, nahm den Deckel ab und legte die blonde Langhaarperücke zwischen seine ordentlich gebügelten Hemden.
Dienstag, 17. Oktober 2006
Sie stand am Küchenfenster und blickte durch den schmalen Schlitz im Vorhang dem fremden Briefträger nach, der sich zügig entfernte. Er war zu breit, dieser Rücken. Zu breit für ihn . Da draußen ging jemand, den sie nicht kannte. Dessen war sie sich jetzt sicher. Ein Fremder.
Es war vorbei.
Das sollte sie zumindest glauben. Das wollte sie glauben, aber sie konnte es nicht. Es war absurd, aber sie konnte einfach nicht aufhören, an ihn zu denken, ihn zu fürchten, ihm einen Platz in ihrem Leben einzuräumen. Sie konnte sich nicht beruhigen. Nicht einmal nach all diesen Jahren. Wahrscheinlich war sie einfach zu oft in die Falle gegangen. Es war nicht vorbei. Es legte nur eine längere Pause ein, und irgendwann würde es wieder über sie hereinbrechen. Er gab nicht auf. Nicht er . Das wusste sie nur zu gut.
Ihr Blick war noch immer hinaus auf die Straße gerichtet, und mit einem Mal sah sie dort wieder den großen roten Umzugswagen stehen. Sie sah das Gartentor und das Haus, in dem sie früher so gern gewesen war, in dem sie von der Eins in Englisch erzählt und Plätzchen gebacken hatte. Sie sah die alte Mauer aus Klinkersteinen neben den Mülltonnen. Und den roten Umzugswagen. Es hatte sie gewundert, damals, dass sie einen so großen Umzugswagen bestellt hatten, wo sie doch so wenig Möbel besaßen. Die Wohnung war ihr eigenartig leer vorgekommen, kaum eigene Möbel für den Witwer und seinen Sohn. Nur das Allernötigste. Vor allem keine Erinnerungen an die Mutter. Und keine Couch. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und dachte wieder über die Fragenach, wo die ganzen Möbel hergekommen sein mochten, die die Leute vom Umzugsunternehmen aus dem Haus geschleppt hatten. Vielleicht hatten sie ja doch irgendwann welche dazugekauft. Heimlich. Immerhin war sie ja nur ein einziges Mal in der Wohnung gewesen, ganz am Anfang. Bevor sie wusste, wie er wirklich war. Da hatte er ihr noch irgendwie
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