Der Beutegaenger
Abstand. Aber das musste nichts bedeuten. Nichts Endgültiges zumindest. Er wusste nicht viel über sie, und er hatte keine Ahnung, ob es zwischen ihnen besser werden würde, wenn sie einander näher kannten, aber er wusste, dass sie heute, dass sie jetzt, in diesem Augenblick, etwas gemeinsam hatten. Sie hatten beide einen Verlust erlitten. Einen Halt verloren. Sie hatten etwas gemeinsam.
Er lauschte dem Fallen der Schneeflocken und blickte wieder auf das frische Grab hinunter. Zuerst hatte er geglaubt, sie wäre gar nicht gekommen, sie habe es tatsächlich gewagt, dem Begräbnis ihrer eigenen Schwester fernzubleiben, aber dann hatte er sie entdeckt, weit abseits, wo sie sich ganz in den Schatten der alten Bäume zurückgezogen hatte. Er hatte mehr geahnt, dass sie dort stand, als dass er sie tatsächlich gesehen hätte.
Als er sich auf den Rückweg machte, kam sie ihm entgegen. Sie sah furchtbar aus. Verquollen. Schlaflos.
»Danke, dass Sie gekommen sind.« Sie trug einen schlichten schwarzen Wollmantel und hielt eine lachsfarbene Rose in der Hand. Ihre Fingergelenke waren weiß vor Kälte, als sie ihm förmlich die Hand hinstreckte.
»Keine Ursache«, sagte er und fragte sich, wo die Worte waren, die er sich zurechtgelegt hatte.
Winnie Hellers Finger spielten mit dem Stiel ihrer Rose. »Bleibt es dann bei morgen früh halb zehn?«
Am nächsten Tag fand eine erste Anhörung statt. Marianne Siemssen würde dort sein. Sie würde ihre Version der Geschichte wiederholen. Und genau wie in den Vernehmungen der letzten Tage würde eine eigentümliche Müdigkeit in ihrer warmen Stimme schwingen, die davon kam, dass sie sich andie neu gewonnene Freiheit erst würde gewöhnen müssen. Wenn sie sich je daran gewöhnte.
»Ja, halb zehn«, sagte Verhoeven. »Aber Sie sollten nichts überstürzen. Vielleicht nehmen Sie sich einfach noch ein paar Tage frei.«
»Ich will . . .« Sie stand ganz aufrecht, den Blick auf irgendeinen entfernten Punkt gerichtet. Auf ihrer Pfirsichstirn zerschmolzen die Schneeflocken. »Ich glaube, ich würde lieber einfach weitermachen.«
Er nickte. Manchmal war es das Beste, einfach weiterzumachen. Erst einmal. Er wusste, der Schmerz würde Winnie Heller einholen. Aber nicht heute. Auch morgen nicht. Wenn sie Glück hatte, ließ sich der Zusammenbruch noch eine Weile im Zaum halten. Bis sie neue Kraft geschöpft hatte. »Okay.«
Sie sah ihn an. Dankbar. Und unendlich müde.
Verhoeven fühlte etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil er sie nicht zwang, sich auszuruhen. Aber er wusste auch, dass er ihr das nicht antun durfte. Das Verhältnis zu ihren Eltern schien vollkommen zerrüttet zu sein. Sie hat nur ihre Arbeit, dachte er. Nur diesen einen Halt. Im Augenblick zumindest. »Dann sehen wir uns also morgen früh.« Er formulierte es ganz bewusst als Feststellung. Nicht als Frage.
»Ja, morgen«, sagte sie mit einem leisen Lächeln, von dem er zum ersten Mal, seit er sie kannte, den Eindruck hatte, dass es von innen kam.
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