Der bewaffnete Freund
nicht mehr unterscheiden lassen.
Wir betreten eine Kneipe und bestellen Rioja. »Das Schlimmste ist das Neo-Hippieske«, sage ich. »Backpacker, die sich für Aussteiger halten, aber in Wirklichkeit nur als neoliberale Vorhut des Pauschaltourismus unterwegs sind.«
Tarifa ist ein Surferparadies. Die Geschäfte sind auf Englisch sprechende, kiffende Jungkonsumenten ausgerichtet.
Rabbee verzieht das Gesicht. »Du redest wie ein alternder Kulturpessimist.« Der Freund weiß, wovon er spricht. Er hat über Walter Benjamins Geschichtsthesen promoviert.
Fortschritt – ein Sturm, der, sich in den Flügeln der Geschichte verfangend und Katastrophen auftürmend, vom Paradies wegtreibt.
Wir trinken den Wein aus, ich bestelle nach. Die Gläser beschlagen sofort, als die Flüssigkeit hineinschwappt. In Andalusien wird selbst der Rioja kalt serviert. So schmeckt man die Gerbsäure weniger. Von den Wänden blicken uns Stierkämpfer an. Ich glaube, in einem Roman von Thomas Meinecke gelesen zu haben, dass Toreros camp sind. Machos und doch Tunten. Kleider und Gestik komplett effeminiert, der mit dem Tier ringende Kämpfer dagegen eine Inszenierung von Männlichkeit. Ich beschließe, die Bemerkung für mich zu behalten. Rabbee würde feststellen, dass ich mich wiederhole.
In unserem Gesprächsverhalten ähneln wir einem alten Ehepaar. Dabei sind wir erst ein paar Monate …
Ja, was sind wir eigentlich?
Zusammen sind wir nicht.
Wir verlassen die Kneipe, feuchte Luft schlägt uns ins Gesicht. Wir gehen an im Schatten geparkten BMWs vorbei, ich konzentriere mich auf den einsetzenden Alkoholrausch. Bescheidene Euphorie. Zielstrebig schreitet Rabbee Richtung Strand voran, der sich westlich der Altstadt an der Atlantikseite Tarifas erstreckt. Kurz bevor wir das Meer erreichen, fällt der Blick auf die alte Festung, von der aus Spanien früher den Zugang zum Mittelmeer kontrollierte. Ein riesiger, sechseckiger Bau, selbst aus der Ferne Furcht einflößend.
Im Inneren, heißt es, befinde sich ein Auffanglager für illegale Einwanderer.
Ich verkneife mir auch diese Bemerkung. Wenn es so wäre, würde das bedeuten: Der südlichste Punkt des europäischen Festlands ist ein Lager.
Rabbee hat einen Sonnenschirm gemietet und sucht uns einen Platz zwischen Interrail-Mädchen, ein paar Surfern und alleinerziehenden 45-jährigen Müttern. Ich lasse den Blick schweifen. Seit ich eine, sagen wir, Affäre mit Rabbee habe, ist meine Wahrnehmung sexualisiert. Bemerkenswerterweise interessieren mich Männer- und Frauenkörper gleichermaßen. Allerdings nur jene, die eindeutig maskulin oder feminin aussehen.
Aufmerksam mustere ich die Körper. Das Gute am Strand: Man kann nackte Menschen betrachten, ohne indiskret zu wirken. Die Beobachteten kümmert es nicht, ob man sie anschaut oder das hinter ihnen anbrandende Meer.
Rabbee fragt, ob ich baden gehen möchte. Ich nicke. Das Wasser ist kalt, atlantische Strömung.
Ich will sechs Monate in Spanien bleiben, um an einem wissenschaftlichen Projekt über Europa teilzunehmen – wobei sich die grundlegende Frage hier bereits stellt. Was soll das sein: Spanien, Europa? Es ist keine vier Wochen her, dass man mich eingeladen hat. Unter der Leitung von Haberkamm sollen wir, eine multidisziplinäre, internationale Gruppe, über europäische Identität forschen. Beziehungsweise sie mitherstellen. Konstitution staatenübergreifenden Bürgerbewusstseins hat Haberkamm das genannt und erklärt, dass die Texte in verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten erstellt und zusammengetragen werden sollen. Das Projekt hat etwas von einem Befreiungsschlag, jetzt, da der Vereinigungsprozess in einer tiefen Krise steckt, wollen führende europäische Intellektuelle neue Impulse setzen, und ich habe mich als einer ihrer Zuarbeiter angedient. Haberkamm hat mir Spanien vorgeschlagen, weil ich das Kastilische fast muttersprachlich beherrsche. »Das ermöglicht Ihnen doch, regelrecht in die Realität vor Ort einzutauchen.« Man bezahlt mir die Reisekosten, das BAT-IIa-Gehalt eines wissenschaftlichen Mitarbeiters und einen Auslandszuschlag. Zudem bin ich weitgehend unabhängig. Natürlich soll ich regelmäßig mit Haberkamm und der Koordinationsstelle in Deutschland korrespondieren. Aber Forschungsstätte und Thema konnte ich mir aussuchen. Haberkamm setzt auf die, wie es Unternehmensberater ausdrücken würden, Freisetzung kreativer Potenziale. Ich habe mich für X entschieden. Mit der Stadt, deren Name man, will man
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