Der bewaffnete Freund
matschig.
Rabbee hält mir die Hörer hin. Die tamilisch-britische Rapperin M.I.A. Ich höre kurz hinein.
Vier Stunden später, Madrid. Brütende Hitze. In den Wartehallen der Station Madrid Sur drängen sich die Leute. Die Bustickets ausverkauft. Auch hier wieder Schilder und Aushänge auf Rumänisch und Bulgarisch. Junge Männer, die nach der Arbeitssaison auf den Obstplantagen in ihre Heimatorte zurückkehren. Und auffällig viele lateinamerikanische Frauen in Begleitung von Männern, die nicht wie ihre Ehemänner oder Freunde aussehen.
»Wenn der Kapitalismus«, sage ich zu Rabbee, »eines Tages zusammenbrechen und sich die neue Ordnung durch die Erzählung der Gräueltaten des untergegangenen Systems zu legitimieren versuchen sollte, werden diese Geschichten auf ganz ähnliche Weise zum Thema von Fernsehdokumentationen und Real-Crime-Reportagen werden, wie es heute die Berichte von der Verfolgung durch die DDR-Staatssicherheit sind. Man wird von den Tragödien der ertrunkenen Einwanderer und in die Prostitution verkauften Frauen erzählen, und alle werden sich fragen, wie eine ganze Gesellschaft so gleichgültig sein konnte.«
»Wohl wahr, aber ein bisschen moralisch im Ton«, antwortet er.
»Das ist die protestantische Erziehung.«
»Ich dachte, du bist katholisch.«
»Aber ich kann ja trotzdem protestantisch erzogen worden sein.«
Wir legen uns auf die Wiese vor dem Busbahnhof und warten darauf, dass es endlich halb fünf wird. Ich mag Madrid nicht besonders. Im Winter ist es zu kalt, im Sommer zu heiß. Ein Gärtner stellt die Sprinkler-Anlage an, und auf der Flucht vor dem Sprühregen fliegt die Zeitung mit Zubietas Foto in das Wasserbassin in der Mitte der Grünanlage. Das Bild des Freundes tanzt eigenartig auf der Oberfläche. Grimmiger, allmählich aufweichender Blick.
Zubieta war das älteste von drei Kindern. Montserrat erzählte später, um das Internat, in dem sie wie so viele andere Kinder in den frühen siebziger Jahren gelandet war, sei Zubieta nur herumgekommen, weil er zu Hause gebraucht wurde. Seine Familie stammte aus einem Küstenort in der Nähe von X und besaß ein kleines, schlecht laufendes Geschäft, in dem Brot und Zeitungen verkauft wurden. Wie die meisten Dorfbewohner hatte auch Zubietas Vater in einer Fabrik in X angeheuert, es waren die Jahre der zweiten großen Industrialisierungswelle, und nur wenige Leute in den Dörfern um X arbeiteten weiter als Bauern oder Fischer. Weil der Vater nur am Wochenende nach Hause kam, musste Zubieta schon als Zehnjähriger mithelfen: die freien Nachmittage im Laden verbringen, auf die kleinen Geschwister aufpassen oder sich um die beiden Kühe kümmern, die wie vergessen im Stall standen. Montserrat behauptete, er sei ein trauriges Kind gewesen, ein stiller, zurückhaltender Mitschüler, über den kaum jemand etwas Persönliches wusste. Erst mit fünfzehn, als er sich der Arbeit daheim zu verweigern begann, habe er sich – dann allerdings schlagartig – verändert. Franco lag in den letzten Zügen, und in der Region um X herrschte mehr noch als sonst auf der Halbinsel Aufbruchstimmung. Die Mädchen begannen Miniröcke zu tragen, Pärchen fassten sich in der Öffentlichkeit an, die Kirche, eine der wichtigsten Stützen der Diktatur, verlor an Einfluss, fast täglich gab es Demonstrationen und Streiks. Zubieta ließ sich, von der Stimmung angesteckt, die Haare wachsen, verbrachte die freie Zeit mit der cuadrilla, dem Freundeskreis, und wurde zum Frauenschwarm. Es stellte sich heraus, dass er nicht nur intelligent war, weil er die Nachmittage im Geschäft offenbar damit verbracht hatte, Zeitschriften zu lesen und Radiosendungen mit dem Weltempfänger zu hören, erst die Musikprogramme aus Frankreich, dann auch die spanischsprachigen Nachrichten von BBC oder Radio Moskau, nein, noch dazu konnte er auch sehr witzig sein. Weil es in dieser Zeit, von den Kindern der Polizisten einmal abgesehen, kaum einen Jugendlichen gab, der nicht Revolutionär werden wollte, fing auch die Clique von Zubieta und Montserrat an, sich auf verbotenen Kundgebungen herumzutreiben. Franco starb, der König stellte die Kontinuität sicher, auf den Straßen verlangten Hunderttausende eine Amnestie. Zubieta und Montserrat schlossen sich einer trotzkistischen Partei an, die wie die meisten radikalen Gruppen damals aus der verbotenen Organisation hervorgegangen war, eigneten sich die marginale Sprache wieder an die von den Großeltern zu Hause noch geredet wurde,
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