Der Beweis des Jahrhunderts
Jahren hatte er bereits einiges auf dem Kerbholz, kleinere Jugendsünden, und das Einzige, woran er wirklich Spaß hatte, war Boxen. Er wollte die Berufsschule und dann das Militär rasch hinter sich bringen, trank aber auch gern und prügelte sich, wie eben die meisten russischen jungen Männer seiner Generation. Seine Eltern sahen schwarz für ihn, taten, was sie konnten, baten und bettelten, mussten vielleicht jemanden schmieren, bis ein Wunder geschah und ihr Sohn einen Platz an einer mathematischen Oberschule in der Stadt bekam. Und dort ereignete sich ein weiteres Wunder: Rukschin verliebte sich in die Mathematik und lenkte nicht nur alle seine kreativen, sondern auch seine aggressiven und kompetitiven Energien auf sie. Er versuchte, an Mathematik-Olympiaden teilzunehmen, wurde aber von Kameraden ausgestochen, die bereits seit Jahren im Training waren. Er selbst schaffte es nicht, glaubte aber zu wissen, wie man es anstellen müsse, um sich durchzusetzen. So sammelte er ein paar Schüler 44 um sich, die gerade mal ein Jahr jünger waren als er, trainierte sie, und siehe da: Sie schlugen sich erfolgreicher als ihr Trainer. Danach begann er, Oberschüler aus ganz Leningrad zu trainieren, wurde schließlich Lehrassistent im Pionierpalast. Knapp ein Jahr später übernahm der Trainer, bei dem er gelernt hatte, eine Arbeitsstelle in einer anderen Stadt, und Rukschin wurde sein Nachfolger.
Wie alle jungen Lehrer ließ auch er sich von seinen Schülern zunächst verunsichern. Zu seiner ersten Gruppe gehörten Perelman, Golowanow, Sudakow und andere Jungen, alle nur wenige Jahre jünger als er und alle wollten sie erfolgreiche Wettbewerbsmathematiker werden. Da gab es nur einen Weg für Rukschin: Wenn er beweisen wollte, dass er es verdiente, ihr Coach zu sein, musste er zum besten Mathetrainer werden, den die Welt je gesehen hatte.
Und das gelang ihm. In den seit damals vergangenen Jahrzehnten haben Schüler aus seinen Kursen bei Internationalen Mathematik-Olympiaden insgesamt über siebzig Medaillen gewonnen, darunter mehr als vierzig goldene. Etwa die Hälfte aller russischen Wettbewerbsteilnehmer der letzten zwanzig Jahre kam aus Rukschins Club, der immer größer wurde. Alle wollten sich von ihm oder von seinen Schülern, die seine unvergleichliche Methode anwandten, trainieren lassen.
Es war nicht ganz klar, was sein Training so einzigartig machte. »Ich verstehe bis heute nicht, was er da gemacht hat«, erzählte mir Sudakow, inzwischen ein übergewichtiger und glatzköpfiger Computerwissenschaftler, der in Jerusalem lebt. »Dabei verstehe ich von der Psychologie solcher Sachen durchaus etwas. Wir kamen rein, setzten uns und bekamen unsere Aufgaben. Während wir sie lös 45 ten, saß Rukschin an seinem Schreibtisch. War einer von uns mit einer Aufgabe fertig, ging er zu ihm nach vorne, erklärte seine Lösung und diskutierte sie mit ihm. Das war alles.« Triumphierend sah er mir über den Kaffeehaustisch hinweg, an dem wir saßen, ins Gesicht.
»Aber das machen doch alle«, antwortete ich.
Darauf hatte er nur gewartet. »Genau! Das meine ich ja!« Strahlend vor Freude zappelte er auf seinem Stuhl herum.
Ich war zu Gast in den Übungsstunden in jenem Matheclub, den Rukschin auch ein Vierteljahrhundert später noch leitete und der inzwischen Mathematisches Ausbildungszentrum heißt. 7 Ein paar hundert Kinder, alle haben ihren elften Geburtstag hinter sich, kommen regelmäßig zweimal die Woche nachmittags hierher, nicht anders als Perelman zu seiner Zeit. Am Ende jeder Sitzung – für die unteren Klassen dauern sie zwei Stunden, für die Oberstufe können sie sich in den Abend hineinziehen – bekommen die Schüler eine Liste mit Hausaufgaben. Zu seiner speziellen Strategie, so Rukschin, habe auch gehört, die Aufgabenliste jeweils dem Verlauf der Übung anzupassen: Ein Lehrer müsse unterschiedliche Aufgaben parat haben und dann aus diesen je nach den Fortschritten, die die Schüler in den Stunden machten, die geeigneten auswählen.
Drei Tage später kommen die Schüler mit ihren Lösungen wieder, die sie einer nach dem anderen während der ersten Stunde den Lehrassistenten erläutern. In der zweiten Stunde bespricht der Trainer die richtigen Lösungen an der Tafel. Wenn sie älter werden, lässt Rukschin die Schüler ihre Lösungen an der Tafel selbst erläutern, vor der ganzen Gruppe.
46 Ich konnte sehen, wie die jüngeren Kinder mit der folgenden Aufgabe kämpften: »Im Klassenzimmer sind sechs
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