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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Masha Gessen
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pummelig und schüchtern, ein hässliches Entlein unter anderen hässlichen Entlein. Der Junge, Grischa genannt, spielte damals Geige, seine Mutter hatte nicht nur Mathematik studiert, sondern als junges Mädchen auch Violine gespielt. Ein privater Geigenlehrer wurde engagiert, als Grischa noch klein war. Wenn der Junge im Unterricht ver 38 suchte, die Lösung einer Mathematikaufgabe zu erklären, schienen sich die Worte auf seiner Zungenspitze zu verhaken, zu viele hatten sich dort zu schnell angesammelt, froren für einen Augenblick ein, um dann in einem chaotischen Schwall herauszupurzeln. Der junge Grischa war ein frühreifes Kind, ein Jahr jünger als die anderen in seiner Klasse; nur einen gab es, der war noch jünger: Alexander Golowanow. Er hatte in jedem Schuljahr das Pensum zweier Klassen absolviert und würde die Oberschule bereits mit dreizehn Jahren abschließen können. 1 Während der ersten Jahre im Club wurde Grischa in den Wettbewerben von drei anderen Jungen geschlagen. 2 Mindestens einer von ihnen schien noch begabter zu sein als er: Boris Sudakow, ein rundlicher, lebhafter, neugieriger Junge, dessen Eltern Grischas Familie zufällig kannten. 3 Sudakow und Golowanow zeigten alle Anzeichen außergewöhnlicher Brillanz: Sie preschten ständig vor und sprudelten über vor Ideen, alles sprach dafür, dass sie eine glänzende Entwicklung nehmen würden. Überall wollten sie die Besten sein, die Mathematik, für die sie sich begeisterten, war nur eine Beschäftigung unter anderen, eine Möglichkeit, ihren überragenden Verstand zu gebrauchen, ein Mittel, ihre Einzigartigkeit zur Schau zu stellen. Grischa war ihnen ein interessierter, aber stiller Partner, beinahe ein Spiegel; sie genossen es, wenn er ihre Ideen kommentierte. Er selbst aber schien das Bedürfnis, über eigene Ideen zu sprechen, nicht oft gehabt zu haben. Er baute Beziehungen zu mathematischen Problemen auf. Es waren tiefe Beziehungen, aber sie waren auch zutiefst privat. Die meisten seiner Gespräche schienen sich um Mathematisches zu drehen und vornehmlich in seinem Kopf 39 stattzufinden. Unter den anderen Jungen wäre er einem zufälligen Besucher des Clubs nicht aufgefallen. Auch keiner derjenigen, die ihm viele Jahre später begegneten – und die ich kennenlernen konnte –, beschrieb ihn als brillant. Sehr, sehr klug sei er gewesen, sehr genau in seinem Denken, das allerdings sagen die meisten.
    Welcher Art sein Denken war, blieb rätselhaft. Mathematiker lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: die Algebraiker, die es am einfachsten finden, alle Probleme auf Zahlen und Variablen zu reduzieren, und die Geometer, die die Welt durch Formen und Gestalten wahrnehmen. Wo die eine Gruppe
     
    a 2 + b 2 = c 2
     
    sieht, sieht die andere
     

     
    Golowanow, der über zehn Jahre mit Perelman studierte und mit ihm an Wettbewerben teilnahm, stufte ihn eindeutig als Geometer ein: Während er noch damit beschäftigt gewesen sei, ein geometrisches Problem zu verstehen, hatte Perelman die Lösung bereits gefunden. Golowanow war eben Algebraiker. Sudakow wiederum, der ungefähr sechs 40 Jahre mit Perelman studierte und gelegentlich im Wettbewerb gegen ihn antrat, erzählte mir, Perelman habe jedes Problem auf eine Formel reduziert. Sudakow, so scheint es, ist eben selbst Geometer: Sein Lieblingsbeweis für den oben zitierten Satz des Pythagoras ist durch und durch grafischer Natur, braucht weder Formeln noch Sprache. Worüber sich die beiden frühen Weggefährten also einig sind, ist dies: Perelman denkt anders als sie. Handfeste Beweise für ihre jeweilige Ansicht haben sie allerdings nicht. Perelman stellte seine Überlegungen fast vollständig im Kopf an, weder schrieb er etwas auf, noch kritzelte er Zeichnungen auf irgendwelche Zettel. Dafür tat er etwas anderes – er summte, stöhnte, ließ einen Tischtennisball auf dem Schreibtisch tanzen, schaukelte vor und zurück, schlug mit seinem Stift einen Rhythmus auf die Tischplatte, rieb sich die Oberschenkel, bis die Hosenbeine abgewetzt waren. Irgendwann schließlich rieb er sich die Hände – das Zeichen, dass die Lösung jetzt niedergeschrieben werden konnte, und zwar vollständig ausformuliert. 4 Während seiner ganzen Laufbahn verblüffte er Kollegen niemals mit seiner geometrischen Einbildungskraft, auch nicht, nachdem er sich entschieden hatte, mit Formen zu arbeiten. Was sie jedoch immer beeindruckte, war die unbeirrbare Präzision, mit der er sich durch die Probleme pflügte. 5

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