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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Masha Gessen
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Sein Gehirn schien ein universeller mathematischer Verdichter zu sein, der das Wesentliche aus einem Problem herauspressen konnte. Was auch immer er da in seinem Kopf hatte, seine Clubkameraden nannten es den »Perelmanstock« – ein langes imaginäres Instrument, mit dem er ruhig dasaß, bis er zu einem Schlag ausholte. Und er traf jedes Mal.
    41 Übungsstunden in Mathematikclubs laufen in allen Teilen der Welt mehr oder weniger gleich ab. Die Kinder kommen herein und finden eine Reihe von Aufgaben vor, entweder an der Tafel oder auf Blättern, die ihnen ausgehändigt werden. Sie setzen sich hin und versuchen, die Aufgaben zu lösen. Der Trainer sitzt die meiste Zeit still herum, Lehrassistenten gehen durch die Reihen und reden mit dem einen oder anderen Schüler. Sie stellen Fragen, um Anstöße zu geben oder das Denken der Kinder in eine andere Richtung zu lenken.
    Für ein sowjetisches Kind war es etwas ganz Wunderbares, nach der Schule in einen Matheclub gehen zu können. Aus einem einfachen Grund: Es ging dort völlig anders zu als in der Schule. Überall in der Sowjetunion, jeden Morgen kurz nach acht Uhr, verließen Kinder die überall gleichen Wohnblocks, liefen zu den überall gleichen Schulgebäuden aus Beton, setzten sich in die überall gleichen Klassenräume mit den knallgelb gestrichenen Wänden und den Porträts bärtiger toter Männer an der Wand – Dostojewski und Tolstoi in den Literaturklassen, Mendelejew im Chemiesaal, Lenin überall. Ihre Lehrer vermerkten ihre Anwesenheit in den überall gleichen Klassenbüchern, stützten sich auf die überall gleichen Schulbücher, um ihren Schützlingen eine vollkommen uniforme Ausbildung zuteilwerden zu lassen – und erwarteten als Gegenleistung wiederum Uniformität. Meine Lehrerin in der ersten Klasse einer Grundschule in einer Siedlung am Moskauer Stadtrand, die nicht viel anders aussah als Perelmans Siedlung in Leningrad, brachte mich dazu, so zu tun, als sei ich im Lesen ebenso schlecht wie die anderen Kinder – auf diese Weise entsprach ich ihrer 42 Vorstellung vom Leistungsstandard in der ersten Klasse. Als ich eines Nachmittags zum ersten Mal Rechenaufgaben löste – etwa um die gleiche Zeit wie Perelman sechshundert Kilometer weiter nördlich –, saß ich ewig lange am Schreibtisch, mein Bleistift schwebte über einer geometrischen Zeichnung. An die Aufgabe kann ich mich nicht mehr erinnern, weiß aber noch, dass ich die Zeichnung hätte ändern müssen, um zu einer Lösung zu kommen. Ich saß da, unfähig, meinen Stift aufs Papier zu bringen, bis ein Lehrassistent kam und mir eine einfache Frage stellte, etwa: »Was könntest du tun?«
    »Ich könnte sie umstellen, so vielleicht«, antwortete ich.
    »Dann tu’s«, sagte er.
    Hier also wurde ganz offensichtlich von mir erwartet, selbst zu denken. Beschämt beugte ich mich über mein Blatt, und in ein paar Minuten hatte ich die Lösung aufgemalt. Und fühlte mich anschließend derart befreit, dass ich auf der Stelle zum Mathefreak wurde. Das legte sich erst wieder, als ich auf die höhere Schule wechselte. (Dort nämlich wurde ich erwischt, als ich verbotenerweise einen Analysiskurs für Fortgeschrittene belegte und nicht den vorgeschriebenen geisteswissenschaftlichen Kurs.) Ich liebte das Gefühl, wenn mein Verstand auf Touren kam, sich begierig auf die Suche nach einer Lösung machte, diese fand und dafür gelobt wurde. Es war, als würde mir alles auf einmal geschenkt: Liebe, Wahrheit, Hoffnung und Gerechtigkeit.
    Perelmans Matheclub war eine recht schlichte Angelegenheit. Der Ausbilder, zu dem der alte Natanson seinen Schützling schickte, war Sergei Rukschin, ein hochaufgeschossener, hellblonder Typ mit Sommersprossen, etwas großmäulig. Nur eines war damals besonders an ihm: Er 43 war erst neunzehn Jahre alt, es war der erste Club, den er leiten sollte, und ihm standen keine Lehrassistenten zur Seite. 6 Aber er war ungewöhnlich ehrgeizig, wollte auf keinen Fall versagen. Eigentlich war er ein ganz gewöhnlicher Student an der Leningrader Staatsuniversität, aber an zwei Nachmittagen in der Woche warf er sich in Anzug und Krawatte und schlüpfte in die Rolle eines ausgewachsenen Matheclubtrainers im Pionierpalast.
    In der gesetzten, würdevollen Atmosphäre der mathematischen Gegenkultur Leningrads war Rukschin eigentlich ein Außenseiter. Er wuchs in einer Kleinstadt bei Leningrad auf, war ein unruhiges Kind, nicht anders als unruhige Kinder anderswo auf der Welt auch. Mit fünfzehn

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