Der Bilderwächter (German Edition)
Bildern.
Irgendwann würde sie wissen, wie sie sich entscheiden sollte.
Ganz von allein.
*
» Sie kommen!«, rief Merle und riss mich beinah von den Füßen, als sie mir um den Hals fiel. » Endlich!«
Ilka und Mike hatten keine Mühe, ins Haus zu gelangen, denn die Presseleute hatten ihre Sensationsberichte veröffentlicht und fürs Erste keinen Bedarf an Nachschub. Sie hatten ausführlich über die Morde berichtet und sämtliche Zusammenhänge diskutiert.
Und ließen Ilka in Frieden.
Ihr Geheimnis war nicht gelüftet worden und würde ihr Geheimnis bleiben. Es sei denn, sie lernte, irgendwann darüber zu sprechen.
Alles andere hatte sich aufgeklärt.
Nur die entwendeten Bilder Rubens, die irgendwo in einem der Schließfächer eines privaten Betreibers lagen, waren nicht auffindbar.
» Wir suchen weiter«, hatte der Kommissar bei der letzten Pressekonferenz vor laufenden Kameras versichert. Ich beschloss, ihn bald wegen eines Praktikums anzurufen.
Emilia Ritter hatte ihre Schwester bei der Tat beobachtet, aber sie hatte ihr nicht dabei geholfen.
» Arme Emilia«, hatte Merle gesagt. » Arme, verwirrte Emilia.«
Die dramatischen Vorfälle hatten ihrer Demenz einen Schub gegeben, und sie würde wahrscheinlich nicht allein in dem großen Haus leben können. Das Ehepaar Morgenroth hatte sich jedoch bereiterklärt, die Pflege zu übernehmen, falls es notwendig werden sollte.
Auch Hortenses Schicksal stand in den Sternen. Sie war in die Psychiatrie eingewiesen worden, wo man herauszufinden versuchte, ob sie schuldfähig war oder nicht. So oder so würde sie den Rest ihres Lebens unter Bewachung verbringen.
Ich konnte kein Mitleid mit ihr empfinden, denn sie hatte versucht, Ilka den Mord an Thorsten in die Schuhe zu schieben. Kalt und überlegt hatte sie sich seine weißen Arbeitshandschuhe übergestreift, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, als sie ihn mit seinem eigenen Halstuch erdrosselte.
Aber heute wollte ich nicht darüber nachdenken.
Heute wollten wir Ilkas Rückkehr feiern.
Merle und ich hatten den Frühstückstisch gedeckt. Wir hatten Brötchen geholt und Ilkas Lieblingsmarmelade vom Biohof. Merle hatte einen Kuchen gebacken, und unsere Katzen hatten sich ohne Ausnahme in der Küche versammelt, ein kleines, schnurrendes Empfangskomitee.
Alles war für Ilka bereit.
Sie sah aus, als hätte sie sich eben erst von einer schweren Grippe erholt. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Sie war so blass, dass ich erschrak. Ich nahm sie in die Arme, und Merle rückte ihr einen Stuhl zurecht.
» Ich bin nicht krank«, sagte Ilka und wagte ein kümmerliches Lächeln. » Ich bin nur ein bisschen erschöpft.«
Wir kochten eine Runde Kaffee, während Ilka die Katzen begrüßte und sich zärtlich mit Klecks unterhielt. Der kleine Kater rollte sich vor lauter Glück auf dem Boden hin und her, und zum ersten Mal war auf Ilkas Gesicht wieder ein Strahlen.
» Erzähl«, sagte Merle.
Ilka aß wie ein Spatz.
Aber sie erzählte.
*
Mike hatte keinen Hunger. Am liebsten hätte er nur dagesessen und Ilka zugehört, deren Stimme von Minute zu Minute kräftiger und zuversichtlicher zu werden schien.
Noch im Auto hatte er sie vorsichtig gefragt, aus welchem Grund sie weggelaufen war und sich ausgerechnet an Marten gewandt hatte.
» Ich wollte nicht eingesperrt werden«, hatte sie geantwortet. » Alles war wieder da, Mike. Wie damals. Da musste ich weg. Und als ich nicht mehr weiterwusste, ist mir Marten eingefallen.«
Vielleicht konnten sie noch einmal in Ruhe darüber reden. Vielleicht.
Später.
Wenn es ihr besser ging.
Und er seine Eifersucht überwunden hatte.
Nach dem Frühstück legte Ilka ein Päckchen für ihn auf den Tisch. Vorsichtig wickelte er eine winzige bunte Holzfigur aus dem Papier, die zwischen seinen Fingern beinah verschwand.
» Ein Schutzengel«, erklärte Ilka lächelnd. » Er soll auf dich aufpassen, weil ich dich nie, nie verlieren will.«
Der Engel hatte ein andächtiges Gesicht und trug ein dickes rotes Herz in den Händen und machte fast, dass Mike die Tränen kamen.
*
Sie gaben sich solche Mühe, die eine, die einzige, die wichtigste Frage von allen nicht zu stellen. Geschickt wechselten sie das Thema, sobald sie sich ihr auch nur näherten.
Aber um diese Frage kamen sie nicht herum, und Ilka musste sie beantworten.
» Lara hat mir erklärt, was mit mir geschehen ist«, sagte sie. » Was Ruben mir … angetan hat, habe ich noch nicht richtig verarbeiten können. Die
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