Der Bilderwächter (German Edition)
Haus.
So nannten die Schwestern das Gebäude, in dem sein Nachlass untergebracht war.
Rubens Haus.
Als wäre Ruben noch lebendig.
Emilia zog das Taschentuch aus ihrem linken Ärmel und tupfte sich die Augen. Der Duft ihres Parfüms stieg ihr in die Nase.
Gucci.
Man gönnte sich ja sonst nichts.
Sie kicherte, als sie das Taschentuch wieder wegsteckte.
So war das in ihrem Alter. Die Empfindungen lagen dermaßen nah beieinander, dass sie sich ständig gegenseitig in die Quere kamen.
Ähnlich war es mit den Gedanken.
Kaum dachte sie an etwas, drängte sich ein anderer Gedanke dazwischen.
Das Alter hatte seine Tücken.
Durch das zarte Gespinst der Gardine nahm sie die Dinge draußen wahr, als wären sie Teil einer anderen Wirklichkeit. Irgendwie getrennt von ihr. Weiter weg und deshalb nicht so erschreckend.
Sie behielt Rubens Haus im Blick, um zu sehen, ob der junge Mann noch einmal herauskam. Das tat er manchmal, um eine Zigarette zu rauchen. Emilia hatte ihn auch schon dabei beobachtet, wie er sich hinter einen Busch zurückzog, um zu pinkeln. Obwohl Rubens Haus über eine Toilette verfügte.
» Woher willst du wissen, dass er in den Garten pinkelt?«, hatte Hortense sie mit ihrer rechthaberischen Art gefragt.
» Weil er sich anschließend den Hosenschlitz zumacht«, hatte Emilia geantwortet.
Doch Hortense hörte nicht zu. Vermutlich würde sie morgen wieder dasselbe fragen. Und Emilia würde dasselbe antworten.
So ging es schon ihr Leben lang. Immer, immer und immer wieder. Wie in einer Endlosschleife.
Acht Uhr, grauer Schneeregen, und dieser Bodo Breitner trat zum Dienst an. Man konnte die Uhr nach ihm stellen.
Abgesehen von seinem lächerlichen Namen, der eher nach Detektiv oder Schlagersänger klang, und obwohl er noch so jung war, machte er einen ganz respektablen Eindruck.
Er war freundlich. Grüßte, wenn man ihm begegnete, war höflich und zuvorkommend, störte nicht. Fast konnte man vergessen, dass er da war.
Doch natürlich vergaß Emilia es nie.
Auch Hortense vergaß es nicht.
Seine tägliche Anwesenheit hatte ihr Leben verändert.
Jemand war in Rubens Haus eingedrungen.
Und tat es immer wieder.
Es war schrecklich, das mitanzusehen.
*
Bestimmt stand sie wieder am Fenster. Hinter der Gardine verborgen wie ein altes Klatschweib.
Das konnte Stunden so gehen.
Hortense mochte nicht daran denken, aber sie konnte es auch nicht vermeiden.
Emilia am Fenster.
Ein Bild, das sie fast schon verfolgte.
Glaubte Emilia denn, sie sei die Einzige, die unter der Anwesenheit des Mannes litt? Meinte sie wirklich, sie hätte die Trauer um Ruben für sich gepachtet? Die Trauer, die niemals aufhörte?
Zu keiner Tageszeit.
Die immer noch Schmerzen bereitete.
Wie am ersten Tag.
Hortense versuchte, den Fremden zu ignorieren. Ihn aus ihrem Bewusstsein auszublenden. Einfach so zu tun, als sei er nicht da.
Es kostete sie viel Kraft. Und dann gelang es ihr noch nicht einmal.
Manchmal setzte sie sich ans Klavier und legte die knotigen Hände auf die Tasten. Entlockte dem Instrument ein paar Töne. Und gab ernüchtert wieder auf.
Ihre Finger waren steif geworden. Die Haut spannte über den Knochen, übersät mit hässlichen Altersflecken. Wenn Hortense ihre Hände betrachtete, glaubte sie, die Hände einer fremden Frau zu sehen. Einer alten Frau, nach der sich niemand mehr umdrehte. Der keiner mehr freiwillig zuhörte.
Die allen bloß im Weg stand.
Seit Ruben tot war, war alles anders geworden.
Er war gegangen und hatte das Licht mitgenommen, das Hortenses Tage ausgeleuchtet hatte.
Von jetzt auf gleich hatte sie aufgehört zu lachen. Zu träumen.
Ohne Ruben fiel jegliche Hoffnung in sich zusammen.
War alles kalt.
Dabei hatten sie ihn gar nicht so oft gesehen. Doch wenn er vor der Tür gestanden hatte, mit diesem schiefen Grinsen im Gesicht, das Hortense so sehr geliebt hatte, dann war alles Warten zu Ende gewesen und sie hatte beinah so etwas empfunden wie Glück.
Hortense ging in ihr Schlafzimmer und drehte den Schlüssel im Schloss. Dann holte sie eine Schachtel aus dem alten Kirschholzschrank hervor und setzte sich damit in den Sessel, der früher ihrem Vater gehört hatte.
Andächtig hob sie den Deckel ab.
Und da lagen sie vor ihr. All die Briefe, die sie Ruben geschrieben und ihm nie zu lesen gegeben hatte.
Sie besaß sieben Schachteln, die voll waren mit diesen Briefen, alle auf ihrem schönsten Papier geschrieben. Mit Tinte. Ganz altmodisch. Romantisch.
Auch nach seinem Tod hatte
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