Der Bilderwächter (German Edition)
Zukunft sollte er beweglich sein und das nicht nur innerhalb Deutschlands.
Mein Leben wird sich komplett verändern, dachte er mit einer Mischung aus Faszination, Freude und Unbehagen. Nicht mehr lange, und er würde einen Namen in der Kunstwelt haben.
Wenn auch nicht aus eigener Kraft, sondern eher geliehen. Gewissermaßen.
Er schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf die weiße Leinwand.
Diese verfluchte Unsicherheit!
Dabei hatte er das Triptychon doch bereits skizziert.
Und die Blätter wieder zerrissen …
Er war nicht spontan genug. Nicht mutig. Zögerte bei jedem Pinselstrich.
Immer war ihm sein Kopf im Weg.
Und die Erinnerung an Ruben.
Ruben hatte nie eine Kunstakademie von innen gesehen. Dennoch hatten ihn die große Elisabeth Schwanau und der legendäre Emil Grossack unterrichtet. Privat.
Davon hätte Thorsten nicht einmal zu träumen gewagt.
Er selbst war Autodidakt. Hatte vor dem Abi die Schule geschmissen und war ein Jahr lang durch Europa vagabundiert.
Das war seine Schule gewesen.
Er hatte Menschen porträtiert. In den U-Bahnen, auf Märkten und in Cafés. Hatte Szenen des Alltags festgehalten und die Landschaft zahlloser Gesichter auf Papier gebannt. Vor Kirchen und Museen hatte er meterweise Straßenpflaster bemalt, um sich die nächste Mahlzeit zu verdienen oder ein warmes Bett für die Nacht.
Er hatte sich daran gewagt, die Meister zu kopieren.
Hatte gelernt, gelernt und gelernt.
Fehler gemacht. Misslungene Zeichnungen in einem zornigen Ritual verbrannt. Sich hundert Mal geschworen, dem Rat seiner Eltern zu folgen und mit dem Malen aufzuhören.
Einen anständigen Beruf zu erlernen.
Etwas mit Pensionsanspruch.
Und war der Kunst doch immer weiter verfallen.
Bei einer kleinen Ausstellung zu dem Thema Die neuen jungen Wilden hatte er dann Ruben kennengelernt.
Ruben hatte ihn fasziniert mit seiner Unbedingtheit. Seinen Visionen. Und der festen Entschlossenheit, sie niemals und unter keinen Umständen zu verraten.
Von Anfang an hatte er einen eigenen, leicht wiedererkennbaren Stil entwickelt. Seine Themen änderten sich, nicht aber seine Handschrift.
Das vor allem war es, was ihn von anderen Malern unterschied – er hatte seinen Weg nicht suchen müssen. Er hatte ihn vom ersten Schritt an unbeirrt verfolgt.
Sie teilten sich ein Atelier in einer alten Fabrik am Rand von Köln. Der Besitzer hatte das Gebäude an Künstler vermietet, weil er sich damit Renovierungsarbeiten ersparte.
Denn den Künstlern gefiel der baufällige Zustand der großen Räume. Sie mochten den Blick aus den verwitterten Fenstern, der auf ein Grundstück fiel, in dem seit Jahren keine menschliche Hand mehr Ordnung geschaffen hatte. Und den Anblick der bröckelnden Mauern empfanden sie als inspirierend.
Draußen umschlang Efeu die Stämme hoher Bäume. Generationen herabgefallener Blätter hatten sich zersetzt und vermittelten einem die Illusion, auf weichem Waldboden zu laufen. Fast duftete es auch wie im Wald.
Dennoch gelangte genügend Licht durch die riesigen Fenster.
Gutes Licht.
Licht, in dem Großes entstehen konnte.
Das einem jedoch auch gnadenlos die Schwächen aufzeigte.
Thorsten hatte dieses Atelier vom ersten Augenblick an geliebt. Es hatte ihn magisch angezogen. Sobald er es verließ, war es, als hätte sich der Tag verdunkelt.
In dem Geruch nach Farbe und Terpentin war er zu Hause. Er am einen Ende des Raums und Ruben am andern.
Gleich am ersten Tag hatte Ruben ihn aufgefordert, sich für eine Hälfte des Ateliers zu entscheiden. Er selbst hatte die andere genommen. Es schien ihm nicht wichtig zu sein.
Nichts schien ihm wichtig zu sein.
Außer seiner Malerei.
Er malte wie ein Besessener. Vergaß das Essen und Trinken. Verschwendete keinen Blick auf seine Umgebung. Schlenderte so gut wie nie durch den Dschungel von Garten. Man musste ihn schon energisch dazu auffordern, das Haus zu verlassen, ihn regelrecht aus der Arbeit zerren.
Wenn sie alle zusammenhockten und sich die Köpfe heiß redeten über das, was sie taten, was sie wollten und sich ersehnten, saß Ruben wie auf glühenden Kohlen. Es ging ihm nicht um Theorie. Er hatte keine Vorbilder. Keinen Plan.
Er überlegte nicht.
Er malte.
Kämpfte mit der Leinwand und den Farben.
Ergab sich ihnen.
Immer häufiger kam es vor, dass es ihm gelang, sie seinem Willen zu unterwerfen. Das waren die Tage, an denen sich so etwas wie Glück in seinem Gesicht spiegelte.
Doch sein Hochgefühl hielt nie lange an. Es
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