Der blaue Express
Sie mehr, als Ihnen lieb ist.»
«Ist das eine Prophezeiung?», fragte Katherine, wobei sie sich lächelnd erhob.
Der kleine Mann schüttelte den Kopf.
«Ich prophezeie nie», erklärte er pompös. «Zwar gestehe ich, dass ich immer Recht behalte – aber ich prahle nicht damit. Gute Nacht, Mademoiselle, und schlafen Sie gut.»
Von ihrem kleinen Nachbarn amüsiert und angeregt ging Katherine durch den Zug zurück. Sie kam an der offenen Tür des Abteils ihrer neuen Bekannten vorbei und sah, wie der Schaffner das Bett zurechtmachte. Die Dame im Nerzmantel stand am Fenster und schaute hinaus. Durch die Verbindungstür sah Katherine, dass das zweite Abteil leer war. Decken und Taschen türmten sich auf dem Sitz. Die Zofe war nicht da.
Katherine fand ihr Bett schon bereit, und da sie müde war, legte sie sich hin und schaltete gegen halb zehn das Licht aus.
Plötzlich schrak sie aus dem Schlaf; sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass diese stehen geblieben war. Ein Gefühl starken Unbehagens erfasste sie und wuchs von Minute zu Minute. Schließlich stand sie auf, zog ihren Morgenrock an und trat auf den Gang. Der ganze Zug schien zu schlummern. Katherine ließ das Fenster herunter und saß einige Minuten dort, sog die kühle Nachtluft ein und versuchte vergeblich, ihre unbehaglichen Ängste zu unterdrücken. Dann beschloss sie, zum Ende des Wagens zu gehen und den Schaffner nach der Zeit zu fragen, damit sie ihre Uhr stellen konnte. Dessen kleinen Sitz fand sie jedoch leer. Sie zögerte einen Moment und ging dann weiter in den nächsten Wagen. Sie blickte den langen, matt beleuchteten Gang entlang und sah zu ihrem Erstaunen, dass vor dem Abteil der Dame mit dem Nerzmantel ein Mann stand, eine Hand an der Tür. Das heißt, sie meinte, es sei das betreffende Abteil. Aber wahrscheinlich irrte sie sich. Er stand einige Momente dort mit dem Rücken zu ihr, seine Haltung wirkte unsicher und zaudernd. Dann drehte er sich langsam um, und mit einem seltsamen Gefühl des Schicksalhaften erkannte Katherine in ihm den Mann, den sie bereits zweimal bemerkt hatte – einmal auf dem Korridor des Savoy, das zweite Mal bei Cook’s. Dann öffnete er die Abteiltür und ging hinein, wobei er die Tür hinter sich schloss.
Ein Gedanke durchzuckte Katherine. Konnte dies der Mann sein, von dem die andere Frau gesprochen hatte – der Mann, zu dem sie fuhr?
Dann sagte Katherine sich, dass dies romantische Spinnerei sei. Höchstwahrscheinlich irrte sie sich in dem Abteil.
Sie kehrte in ihren Wagen zurück. Fünf Minuten später verlangsamte der Zug sein Tempo. Man hörte das lange, klagende Zischen der Westinghouse-Bremse, und bald darauf hielt der Zug in Lyon.
Elftes Kapitel
Mord
A m nächsten Morgen erwachte Katherine bei strahlendem Sonnenschein. Sie begab sich zeitig zum Frühstück, traf aber keine ihrer Bekanntschaften vom Vortag. Als sie in ihr Abteil zurückkehrte, hatte der Schaffner, ein Mann mit herabhängendem Schnurrbart und melancholischem Gesicht, es gerade für den Tag hergerichtet.
«Madame hat Glück», sagte er, «die Sonne scheint. Es ist immer eine große Enttäuschung für die Passagiere, wenn sie an einem grauen Morgen ankommen.»
«Ich wäre sicherlich enttäuscht gewesen», sagte Katherine.
Der Mann wandte sich zum Gehen.
«Wir haben einige Verspätung, Madame», fuhr der Mann fort. «Kurz bevor wir in Nizza sind, sage ich Ihnen Bescheid.»
Katherine nickte. Sie saß am Fenster, bezaubert vom sonnigen Panorama. Die Palmen, das tiefe Blau des Meeres, die goldgelben Mimosen wirkten mit dem vollen Reiz der Neuheit auf die Frau, die vierzehn Jahre lang nur Englands trübselige Winter gekannt hatte.
Als sie Cannes erreichten, stieg Katherine aus und ging den Bahnsteig auf und ab. Sie war neugierig hinsichtlich der Dame im Nerzmantel und sah zu den Fenstern ihres Abteils hoch. Die Blenden waren noch heruntergelassen – die einzigen im ganzen Zug. Katherine wunderte sich ein wenig, und als sie wieder in den Zug stieg, ging sie den Korridor entlang und bemerkte, dass die beiden Abteile auch zum Gang hin noch verhängt und geschlossen waren. Die Dame mit dem Nerzmantel war offensichtlich keine Frühaufsteherin.
Bald kam der Schaffner zu ihr und sagte, der Zug werde in wenigen Minuten Nizza erreichen. Katherine gab ihm ein Trinkgeld; der Mann dankte ihr, ging aber nicht weiter. Sein Benehmen kam ihr seltsam vor. Katherine glaubte zuerst, ihm sei das
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