Der blaue Express
bedeutungsvoll – «scheinen Sie diejenige zu sein, die während der Fahrt am meisten mit ihr beisammen war.»
«Nun gut», sagte Katherine ruhig, «wenn es notwendig ist…»
Sie stand auf. Poirot nickte ihr beifällig zu.
«Mademoiselle ist vernünftig», sagte er. «Darf ich Sie begleiten, Monsieur Caux?»
«Es ist mir ein Vergnügen, mein lieber Poirot.»
Sie traten auf den Gang hinaus, und Monsieur Caux schloss die Tür des Abteils der Toten auf. Die Blenden am Fenster waren halb aufgezogen worden, um Licht hereinzulassen. Die Tote lag auf dem linken Bett, in einer so natürlichen Stellung, dass man hätte meinen können, sie schliefe. Das Bettzeug war über sie gebreitet und der Kopf zur Wand gedreht, so dass man nur die rotbraunen Locken sah. Sehr sanft legte Monsieur Caux ihr die Hand auf die Schulter und drehte die Leiche um, bis das Gesicht zu sehen war. Katherine zuckte ein wenig zurück und bohrte ihre Fingernägel in die Handflächen. Ein schwerer Hieb hatte die Züge fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Poirot stieß einen scharfen Laut aus.
«Wann ist das geschehen, wüsste ich gern», sagte er. «Vor oder nach dem Tod?»
«Der Doktor sagt, nachher», sagte Monsieur Caux.
«Seltsam», sagte Poirot; er kniff die Brauen zusammen und wandte sich an Katherine. «Seien Sie tapfer, Mademoiselle. Schauen Sie sie gut an. Sind Sie sicher, dass das die Frau ist, mit der Sie gestern im Zug gesprochen haben?»
Katherine hatte gute Nerven. Sie wappnete sich, um die liegende Gestalt lang und genau zu betrachten. Dann beugte sie sich vor und nahm die Hand der Toten.
«Ich bin ziemlich sicher», antwortete sie schließlich. «Das Gesicht ist zu sehr entstellt, um es zu erkennen, aber Gestalt und Größe und Haar stimmen, und außerdem habe ich das bemerkt» – sie zeigte auf ein kleines Muttermal am Handgelenk der Toten – «als ich mich mit ihr unterhalten habe.»
«Bon», sagte Poirot anerkennend. «Sie sind eine ausgezeichnete Zeugin, Mademoiselle. Es besteht also kein Zweifel bezüglich der Identität, aber trotzdem ist das Ganze seltsam.» Ratlos starrte er auf die Tote.
Caux zuckte mit den Schultern.
«Offenbar hat sich der Mörder von Wut hinreißen lassen», schlug er vor.
«Wenn sie niedergeschlagen worden wäre, könnte man es verstehen», murmelte Poirot, «aber der Mann, der sie erwürgt hat, ist von hinten herangeschlichen und hat sie überrascht. Ein kurzes Würgen – ein leises Gurgeln – mehr hätte man nicht gehört, und danach dann dieser schlimme Hieb ins Gesicht. Nur: warum? Hat er gehofft, wenn das Gesicht nicht zu erkennen ist, würde sie nicht identifiziert? Oder hat er sie so sehr gehasst, dass er es nicht unterlassen konnte, diesen Hieb auszuführen, obwohl sie schon tot war?»
Katherine schauderte, und sogleich wandte er sich ihr freundlich zu.
«Lassen Sie sich von mir nicht deprimieren, Mademoiselle», sagte er. «Für Sie ist das alles sehr neu und schrecklich. Für mich, hélas!, ist es eine alte Geschichte. Ich darf Sie beide um einen Moment Geduld bitten.»
Sie standen an der Tür und sahen zu, wie er schnell das Abteil untersuchte. Er registrierte die Kleider der Toten, säuberlich am Fußende des Betts gefaltet, den langen Pelzmantel, der an einem Haken hing, und das rote Lackhütchen auf einem Bord. Dann ging er in das Nebenabteil, in dem Katherine die Zofe hatte sitzen sehen. Dort war das Bett nicht hergerichtet. Drei oder vier Decken lagen locker auf dem Sitz; man sah eine Hutschachtel und einige Reisetaschen. Plötzlich wandte er sich zu Katherine um.
«Sie waren gestern hier drin», sagte er. «Fällt Ihnen eine Veränderung auf? Fehlt etwas?»
Katherine sah sich in beiden Abteilen sorgfältig um.
«Ja», sagte sie, «etwas fehlt – ein kleiner dunkelroter Lederkoffer mit den Initialen R.V.K. darauf. Es könnte eine kleine Toilettentasche oder eine große Schmuckschatulle gewesen sein. Als ich sie gesehen habe, hatte die Zofe sie in der Hand.»
«Ah!», sagte Poirot.
«Aber das ist doch», sagte Katherine, «ich – ich verstehe natürlich nichts von so etwas, aber das ist doch ziemlich eindeutig, wenn die Zofe und die Schmuckschatulle fehlen?»
«Sie meinen, die Zofe war die Diebin? Nein, Mademoiselle, dagegen spricht ein sehr gewichtiger Grund», sagte Caux.
«Und zwar?»
«Die Zofe ist in Paris zurückgeblieben.»
Er wandte sich an Poirot. «Sie sollten sich am besten selbst die Geschichte des Schaffners anhören», murmelte er vertraulich.
Weitere Kostenlose Bücher