Der blaue Express
sind, habe ich zu Ihnen hinübergeschaut, und da hatte ich das Gefühl, dass Sie – na ja, dass Sie wussten, was in mir vorging.»
«Ich versichere Ihnen, ich kann keine Gedanken lesen», sagte Katherine lächelnd.
«Nein, aber sagen Sie mir doch bitte einfach, was Sie gedacht haben.» Ruths Eifer war so nachdrücklich und ehrlich, dass Katherine nachgab.
«Ich will es Ihnen sagen, wenn Sie wollen, aber halten Sie mich bitte nicht für unverschämt. Ich habe gedacht, dass Sie aus irgendwelchen Gründen in großer seelischer Bedrängnis seien, und Sie haben mir Leid getan.»
«Sie haben Recht. Sie haben ganz Recht. Ich bin in einer schrecklichen Lage. Ich – ich würde Ihnen gern davon erzählen, wenn ich darf.»
Du liebe Güte, dachte Katherine, wie außerordentlich ähnlich sich alle zu sein scheinen! In St. Mary Mead haben die Leute mir immer alles Mögliche erzählt. Hier ist es wieder das Gleiche, und eigentlich will ich mir die Probleme der anderen gar nicht anhören!
Höflich antwortete sie:
«Erzählen Sie ruhig.»
Sie waren eben mit dem Essen fertig. Ruth stürzte ihren Kaffee hinunter, stand auf, ohne zu bemerken, dass Katherine ihren Kaffee noch nicht angerührt hatte, und sagte:
«Kommen Sie doch mit in mein Abteil.»
Es handelte sich um zwei Einzelabteile mit einer Verbindungstür. Im zweiten saß eine dünne Zofe, die Katherine in Victoria Station bemerkt hatte, kerzengerade auf dem Sitz und umklammerte eine große, dunkelrote Lederkassette mit den Initialen R.V.K. Mrs Kettering schloss die Verbindungstür und sank in die Polster. Katherine setzte sich neben sie.
«Ich bin verzweifelt und weiß nicht, was ich tun soll. Es gibt da einen Mann, an dem mir liegt – an dem mir sehr viel liegt. Wir haben uns sehr gemocht, als wir jung waren, und man hat uns ganz brutal und ungerecht getrennt. Jetzt haben wir uns wieder gefunden.»
«Ja?»
«Ich – ich werde ihn jetzt treffen. Sie finden wahrscheinlich, dass das ganz schlecht ist, aber Sie kennen ja die Umstände nicht. Mein Gatte ist unmöglich. Er hat mich schändlich behandelt.»
«Ja», sagte Katherine wieder.
«Aber der Grund, weshalb ich mich so schlecht fühle… Ich habe meinen Vater hintergangen – das ist der, der mich nach Victoria begleitet hat. Er will, dass ich mich von meinem Mann scheiden lasse, und hat natürlich keine Ahnung davon, dass – dass ich zu diesem anderen fahre. Er würde es für eine schlimme Torheit halten.»
«Ist es das denn nicht auch?»
«Ich – ich glaube schon.»
Ruth Kettering sah auf ihre Hände hinunter; sie zuckten nervös.
«Aber ich kann jetzt nicht mehr zurück.»
«Warum nicht?»
«Ich – alles ist abgemacht, und ihm würde es das Herz brechen.»
«Glauben Sie das bloß nicht», sagte Katherine robust, «Herzen sind ziemlich zäh.»
«Er wird meinen, ich hätte keine Courage, keine Entschlossenheit.»
«Was Sie da vorhaben, kommt mir wirklich ziemlich dumm vor», sagte Katherine. «Ich glaube, Sie wissen das selbst.»
Ruth Kettering vergrub ihr Gesicht in den Händen. «Ich weiß es nicht – ich weiß es nicht. Schon die ganze Reise habe ich ein schlimmes Gefühl – eine Ahnung, dass mir bald etwas zustößt – dass ich nicht entkommen kann.»
Sie umklammerte Katherines Hand.
«Sie müssen mich für verrückt halten, dass ich so mit Ihnen rede. Aber ich sage Ihnen, ich weiß, dass etwas Furchtbares geschehen wird.»
«So etwas sollten Sie nicht denken», sagte Katherine, «versuchen Sie, sich zusammenzureißen. Sie können Ihrem Vater von Paris aus telegrafieren, wenn Sie das möchten, und er kommt sicher sofort zu Ihnen.»
Ruths Gesicht hellte sich auf.
«Ja, das könnte ich tun. Der liebe, alte Dad. Es ist merkwürdig – bis heute habe ich nie so richtig gewusst, wie schrecklich gern ich ihn habe.» Sie richtete sich auf und trocknete die Augen mit einem Taschentuch. «Ich bin sehr dumm gewesen. Vielen Dank dafür, dass ich mit Ihnen reden durfte. Ich weiß gar nicht, wie ich in einen solchen Zustand von Hysterie geraten bin.»
Sie stand auf. «Es geht mir schon viel besser. Ich glaube, ich habe einfach nur jemanden zum Reden gebraucht. Jetzt verstehe ich selbst nicht mehr, warum ich mich derartig zum Narren gemacht habe.»
Katherine stand ebenfalls auf.
«Ich freue mich, dass es Ihnen besser geht», sagte sie in möglichst konventionellem Ton. Sie wusste nur zu gut, dass auf Vertraulichkeiten Verlegenheit folgt. Taktvoll setzte sie hinzu:
«Ich muss zurück in mein
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