Der blaue Express
nennen.»
Der Kommissar rieb sich nachdenklich einige Momente das Kinn.
«Madame», sagte er schließlich, «der Grund ist sehr einfach. Die fragliche Dame wurde heute Morgen in ihrem Abteil tot aufgefunden.»
«Tot!», stieß Katherine hervor. «Was war es – Herzversagen?»
«Nein», sagte der Kommissar mit versonnener, verträumter Stimme. «Nein – sie ist ermordet worden.»
«Ermordet?», rief Katherine.
«Sie sehen also, Madame, warum wir versuchen, uns jede verfügbare Information zu verschaffen.»
«Aber ihre Zofe wird doch sicher…»
«Die Zofe ist verschwunden.»
«Oh!» Katherine hielt inne, um ihre Gedanken zu sammeln.
«Da der Schaffner Sie mit der Dame in ihrem Abteil hat reden sehen, hat er diese Tatsache natürlich der Polizei mitgeteilt, und deshalb, Madame, haben wir Sie aufgehalten, in der Hoffnung, einige Auskünfte zu erhalten.»
«Es tut mir sehr Leid», sagte Katherine, «ich weiß nicht einmal ihren Namen.»
«Ihr Name ist Kettering. Das wissen wir durch ihren Pass und die Gepäckaufkleber. Wenn wir…»
Es klopfte an die Tür des Abteils. Monsieur Caux runzelte die Stirn. Er öffnete die Tür eine Handbreit.
«Was ist los?», sagte er im Befehlston. «Ich will jetzt nicht gestört werden.»
Der eiförmige Schädel von Katherines Dinnerbekanntschaft tauchte in der Öffnung auf. Ein wohlwollendes Lächeln lag auf seinem Gesicht.
«Mein Name», sagte er, «ist Hercule Poirot.»
«Doch nicht…», stammelte der Kommissar, «nicht der Hercule Poirot?»
«Ebendieser», sagte Monsieur Poirot. «Ich erinnere mich, Ihnen einmal begegnet zu sein, Monsieur Caux, und zwar bei der Sûreté in Paris, obwohl Sie mich zweifellos vergessen haben?»
«Keineswegs, Monsieur, keineswegs», erklärte der Kommissar herzlich. «Aber kommen Sie doch bitte herein. Sie wissen von dieser…?»
«Ja, ich weiß», sagte Hercule Poirot. «Ich wollte sehen, ob ich irgendwie behilflich sein kann?»
«Wir würden uns geschmeichelt fühlen», antwortete der Kommissar sofort. «Monsieur Poirot, ich möchte Sie bekannt machen mit» – er konsultierte den Pass, den er immer noch in der Hand hielt – «Madame – eh – Mademoiselle Grey.»
Poirot lächelte Katherine an.
«Es ist seltsam, nicht wahr», murmelte er, «wie schnell meine Worte in Erfüllung gegangen sind?»
«Mademoiselle kann uns, hélas!, sehr wenig erzählen», sagte der Kommissar.
«Ich habe eben erklärt», sagte Katherine, «dass mir diese arme Dame vollkommen fremd war.»
Poirot nickte.
«Aber sie hat mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?», sagte er sanft. «Sie haben einen Eindruck gewonnen – oder nicht?»
«Ja», sagte Katherine nachdenklich. «Das kann man sagen.»
«Und dieser Eindruck war…?»
«Ja, Mademoiselle» – der Kommissar beugte sich abrupt vor – «lassen Sie uns unbedingt Ihre Eindrücke wissen.»
Katherine saß da und überlegte hin und her. In gewisser Weise hatte sie das Gefühl, einen Vertrauensbruch zu begehen, aber da ihr das hässliche Wort «Mord» noch in den Ohren klang, wagte sie nicht, etwas zu verheimlichen. Zu viel konnte davon abhängen. Sie wiederholte deshalb so wörtlich wie möglich das Gespräch, das sie mit der Toten geführt hatte.
«Das ist interessant», sagte der Kommissar; er blickte den anderen an. «Eh, Monsieur Poirot, das ist interessant? Ob es etwas mit dem Verbrechen zu tun hat…» Er ließ den Satz unbeendet.
«Es kann wohl kein Selbstmord sein?», sagte Katherine zweifelnd.
«Nein», sagte der Kommissar, «Selbstmord kann es nicht sein. Sie wurde mit einem Stück schwarzer Schnur erdrosselt.»
«Oh!» Katherine schauderte.
Monsieur Caux spreizte entschuldigend die Arme. «Es ist nicht nett – nein. Ich glaube, unsere Eisenbahnräuber sind brutaler als die in Ihrem Land.»
«Es ist schrecklich.»
«Ja, ja» – er klang beschwichtigend und so, als wolle er um Entschuldigung bitten – «aber Sie haben viel Mut, Mademoiselle. Als ich Sie gesehen habe, da habe ich mir sofort gesagt: ‹Mademoiselle hat viel Mut.› Deshalb will ich Sie um noch etwas bitten – etwas Betrübliches, aber es ist sehr notwendig, versichere ich Ihnen.»
Katherine schaute ihn beklommen an.
Wieder breitete er bedauernd die Arme aus.
«Ich möchte Sie bitten, Mademoiselle, mich freundlicherweise ins Nachbarabteil zu begleiten.»
«Muss das sein?», fragte Katherine leise.
«Jemand muss sie identifizieren», sagte der Kommissar, «und da die Zofe verschwunden ist» – er hustete
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