Der blaue Express
unterhalten. ‹Ellen›, habe ich gesagt, ‹schauen Sie sich Miss Grey an. Sie war ganz dicke mit einigen von den Größten im Land, und läuft sie vielleicht so herum wie Sie, mit dem Rock knapp überm Knie und Seidenstrümpfen, die Laufmaschen kriegen, wenn man zu scharf hinsieht, und den albernsten Schuhen, die ich je gesehen habe?›»
Katherine lächelte ein wenig vor sich hin. Es hatte sich offenbar gelohnt, Miss Viners Vorurteilen entgegenzukommen. Mit wachsendem Schwung fuhr die alte Dame fort.
«Es war mir eine große Erleichterung, dass Sie so ohne Flausen zurückgekommen sind. Erst neulich habe ich meine Zeitungsausschnitte gesucht. Ich habe nämlich einige Artikel über Lady Tamplin und ihr Lazarett und alles mögliche andere. Ich konnte sie aber nicht finden. Sie sollten einmal danach suchen, meine Liebe. Ihre Augen sind besser als meine. Die sind alle in einer Schachtel in einer der Schubladen des Schreibtischs.»
Katherine warf einen Blick auf den Brief in ihrer Hand und wollte eigentlich etwas sagen, verkniff es sich jedoch, ging zum Schreibtisch hinüber, fand die Schachtel mit Zeitungsausschnitten und begann sie durchzusehen. Seit ihrer Rückkehr nach St. Mary Mead hatte sie Miss Viner ins Herz geschlossen und bewunderte die stoische Haltung und den Mumm der alten Dame. Sie hatte das Gefühl, nicht viel für ihre alte Freundin tun zu können, aber aus Erfahrung wusste sie, wie viel diese scheinbaren Nebensächlichkeiten alten Menschen bedeuteten.
«Hier habe ich einen», sagte sie.
«‹Viscountess Tamplin, die ihre Villa in Nizza in ein Lazarett für Offiziere umgewandelt hat, ist das Opfer eines sensationellen Raubes geworden. Ihre gesamten Juwelen wurden gestohlen, da r unter auch die berühmten Smaragde, ein Erbstück des Hauses Tamplin.›»
«Wahrscheinlich Glas», sagte Miss Viner, «wie das meiste, was die Damen der Gesellschaft an Schmuck haben.»
«Hier ist wieder etwas», sagte Katherine. «Ein Bild von ihr. ‹Eine entzückende Studie: Viscountess Tamplin mit ihrem Töchterchen Lenox›.»
«Lassen Sie mal sehen», sagte Miss Viner. «Viel ist vom Gesicht des Kindes nicht zu sehen, oder? Ist wahrscheinlich auch besser so. Die Welt wimmelt von Gegensätzen, und schöne Mütter haben grässliche Kinder. Ich nehme an, der Fotograf hat gesehen, dass der Anblick des Hinterkopfs das Beste ist, was er für das Kind tun kann.»
Katherine lachte.
‹«Eine der elegantesten Gastgeberinnen der diesjährigen Riviera-Saison ist Viscountess Tamplin, die eine Villa in Cap Martin besitzt. Ihre Kusine, Miss Grey, die kürzlich auf sehr romant i sche Weise ein riesiges Vermögen geerbt hat, ist bei ihr zu Gast›.»
«Das ist der, den ich gesucht habe», sagte Miss Viner. «Wahrscheinlich war in einer von den Zeitungen ein Bild von Ihnen, das ich verpasst habe; Sie wissen schon – Mrs Soundso oder Irgendwas Jones-Williams bei diesem oder jenem Geschieße, meistens mit Flinte unter dem Arm und einem Fuß in der Luft. Für einige von denen muss es schlimm sein, hinterher festzustellen, wie sie aussehen.»
Katherine antwortete nicht. Mit einem Finger glättete sie den Zeitungsausschnitt, und auf ihrem Gesicht lag ein verwirrter, besorgter Ausdruck. Dann zog sie den zweiten Brief aus seinem Umschlag und las ihn abermals. Sie wandte sich an ihre Freundin.
«Miss Viner? Hören Sie bitte – ein Bekannter von mir, den ich an der Riviera kennen gelernt habe, möchte mich gern hier besuchen.»
«Ein Mann?», fragte Miss Viner.
«Ja.»
«Wer ist es?»
«Der Sekretär von Mr Van Aldin, dem amerikanischen Millionär.»
«Wie heißt er?»
«Major Knighton.»
«Hm. Sekretär eines Millionärs. Und will herkommen. Also, Katherine, ich will Ihnen mal sagen, was gut für Sie ist. Sie sind ein nettes Mädchen und vernünftig, und Ihr Kopf sitzt richtig herum zwischen den Schultern, aber einmal im Leben macht jede Frau sich zum Narren. Zehn zu eins, dass der Mann da hinter Ihrem Geld her ist.»
Mit einer Geste unterband sie Katherines Antwort. «Auf so etwas habe ich gewartet. Was ist der Sekretär eines Millionärs? In neun von zehn Fällen ein junger Mann, der sich gern ein leichtes Leben macht. Ein junger Mann mit guten Manieren und Hang zum Luxus und nichts im Kopf und kein Unternehmungsgeist, und wenn es etwas gibt, was eine noch schlappere Angelegenheit ist als Sekretär bei einem Millionär zu sein, dann ist es das: Eine reiche Frau wegen ihres Geldes heiraten. Ich will nicht
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