Der blaue Express
Verdacht. Vielleicht lenkt er ihre Aufmerksamkeit auf etwas vor dem Fenster, und als sie sich umdreht, um hinauszuschauen, legt er ihr die Schnur um den Hals – alles ist in ein paar Sekunden vorbei. Die Tür des Abteils wird abgeschlossen, und er und Ada Mason machen sich an die Arbeit. Sie ziehen der Toten die Oberkleidung aus. Mason und Knighton wickeln die Leiche in eine Decke und legen sie im Nebenabteil auf den Sitz, zwischen die Koffer und Taschen. Knighton springt mit den Rubinen in der Schmuckschatulle vom Zug ab. Da angenommen wird, dass das Verbrechen erst fast zwölf Stunden später begangen wurde, ist er völlig in Sicherheit, und seine Aussage und das Gespräch der vermeintlichen Mrs Kettering mit dem Schaffner ergeben ein perfektes Alibi für seine Komplizin.
Im Gare de Lyon kauft Ada Mason einen Speisekorb, schließt sich in der Toilette ein, zieht schnell die Kleider ihrer Herrin an, macht zwei Büschel braunrote Locken am Hut fest und richtet sich insgesamt so her, dass sie Mrs Kettering möglichst ähnlich sieht. Als der Schaffner kommt, um das Bett zu machen, erzählt sie ihm die vorher ausgedachte Geschichte, dass sie die Zofe in Paris gelassen hat. Und während er das Bett macht, steht sie am Fenster und schaut hinaus, mit dem Rücken zum Korridor und zu den dort Vorübergehenden. Das war eine kluge Vorsichtsmaßnahme; wie wir wissen, war ja Miss Grey unter den Vorübergehenden, und wie einige andere war sie ja bereit zu schwören, dass Mrs Kettering um diese Zeit noch gelebt hat.»
«Weiter», sagte Van Aldin.
«Ehe der Zug Lyon erreichte, hat Ada Mason die Leiche ihrer Herrin auf das Lager gebettet, die Kleider der Toten sauber am Fußende zusammengefaltet, selber Männerkleider angezogen und sich bereitgemacht, den Zug zu verlassen. Als Derek Kettering ins Abteil seiner Frau kam und sie, wie er meinte, schlafen sah, ist die Bühne längst fertig, und Ada Mason hat sich in dem anderen Abteil versteckt und wartet auf die Gelegenheit, den Zug unbemerkt zu verlassen. Sobald der Schaffner in Lyon auf den Bahnsteig gesprungen ist, folgt sie ihm und schlendert umher, als ob sie nur ein bisschen frische Luft schnappen will. In einem unbeobachteten Moment eilt sie auf den anderen Bahnsteig und fährt mit dem ersten Zug zurück nach Paris und zum Ritz. Ihr Name ist schon am Vorabend durch eine von Knightons Komplizinnen in die Hotelliste eingetragen worden. Sie braucht also nichts weiter zu tun, als seelenruhig auf Ihre Ankunft zu warten. Der Schmuck war weder zu diesem noch zu einem anderen Zeitpunkt in ihrem Besitz. Auf Knighton fällt keinerlei Verdacht, und als Ihr Sekretär bringt er die Juwelen nach Nizza, ohne die geringste Gefahr einer Entdeckung. Die Übergabe der Juwelen an Monsieur Papopoulos ist längst arrangiert, und im letzten Moment werden sie Ada Mason übergeben, die sie dem Griechen bringen soll. Insgesamt ein sehr sauber geplanter Coup, wie man ihn von einem Meister in diesem Spiel wie dem Marquis erwarten kann.»
«Und Sie meinen ernsthaft, dass Richard Knighton ein bekannter Verbrecher ist, der das seit Jahren betreibt?»
Poirot nickte.
«Einer der wichtigsten Trümpfe des Gentleman namens Marquis war seine angenehme, Vertrauen erweckende Art. Sie sind Opfer seines Charmes geworden, Monsieur Van Aldin, als Sie ihn nach so kurzer Bekanntschaft zu Ihrem Sekretär gemacht haben.»
«Er hat sich absolut nicht aufdringlich um diesen Posten beworben», rief der Millionär.
«Es war sehr raffiniert eingefädelt – so raffiniert, dass sich einer täuschen ließ, dessen Menschenkenntnis ebenso groß ist wie Ihre.»
«Ich habe auch seine Vergangenheit überprüft. Der Bursche hatte erstklassige Referenzen.»
«Ja, ja, das gehörte zum Spiel. Als Richard Knighton hat er ein tadelloses Leben geführt. Gute Familie, gute Verbindungen, ehrenhafte Pflichterfüllung im Krieg; insgesamt schien er über jeden Verdacht erhaben. Aber als ich mir Informationen über den geheimnisvollen Marquis beschafft habe, fand ich viele Ähnlichkeiten. Knighton sprach Französisch wie ein Franzose, war in Amerika, Frankreich und England genau zur selben Zeit, als der Marquis dort gearbeitet hat. Das Letzte, was man vom Marquis hörte, war die Planung und Durchführung groß angelegter Schmuckdiebstähle in der Schweiz, und in der Schweiz haben Sie Major Knighton kennen gelernt; und zwar genau zu der Zeit, als die ersten Gerüchte über Ihre Absicht umliefen, die berühmten Rubine zu kaufen.»
«Aber
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