Der blaue Mond
zusammenfassen und definieren, was ich gerade durchmache. Denn als ich es mir vorhin anders überlegt und ihm die SMS geschickt habe, dass er vorbeikommen soll, dachte ich, das würde alles wieder ins Lot bringen. Doch sowie ich ihm die Tür aufgemacht habe, hätte ich sie am liebsten sofort wieder zugemacht. Und ganz egal, wie sehr ich mich auch bemühe, ich komme einfach nicht dahinter, warum ich so empfinde.
Ich meine, wenn ich ihn ansehe, liegt klar auf der Hand, wie glücklich ich mich schätzen darf. Er ist nett, er ist hübsch, er spielt Football, er hat ein cooles Auto, er ist einer der beliebtesten Jungs in seinem Jahrgang - ganz zu schweigen davon, dass ich schon so lange auf ihn stand, dass ich es kaum glauben konnte, als ich mitgekriegt habe, dass er auch auf mich steht. Doch jetzt ist alles anders. Und ich kann mich schließlich nicht dazu zwingen, Dinge zu empfinden, die ich nicht empfinde.
Ich hole tief Luft und bin mir der Last seines durchdringenden Blicks bewusst, während ich mit meinem Armband spiele. Ich drehe es herum und herum und versuche erneut, mich zu erinnern, woher ich es habe. Irgendein Anhaltspunkt spukt in meinem Hinterkopf herum, etwas in Richtung ...
»Vergiss es«, sagt er. »Aber das ist mein Ernst, Ever. Du musst dich bald entscheiden, was du willst, denn so ...«
Ich sehe ihn an und frage mich, ob er den Satz beenden wird, wobei ich staunend feststelle, dass es mir so oder so völlig gleichgültig ist.
Brandon greift nach seinem Autoschlüssel. »Was soll's. Viel Spaß am See«, sagt er.
Ich sehe zu, wie sich die Tür hinter ihm schließt, gehe zum Sessel meines Vaters, schnappe mir die Wolldecke, die meine Großmutter uns kurz vor ihrem Tod gestrickt hat, und wickele mich vom Kinn bis zu den Füßen darin ein. Ich muss daran denken, wie ich Rachel erst letzte Woche anvertraut habe, dass ich mir ernsthaft überlege, richtig mit Brandon zu schlafen, und jetzt - jetzt ertrage ich es kaum, wenn er mich bloß berührt.
»Ever?«
Ich schlage die Augen auf. Riley steht vor mir. Ihre Unterlippe zittert, und ihre blauen Augen sind auf meine gerichtet. »Ist er weg?« Sie sieht sich im Zimmer um. Ich nicke.
»Setzt du dich zu mir, bis ich eingeschlafen bin?«, fragt sie und beißt sich auf die Lippen, während sie mich mit diesem traurigen Hundeblick anguckt, der einfach unwiderstehlich ist.
»Ich habe dir doch gesagt, dass der Film viel zu gruselig für dich ist«, sage ich und lege ihr eine Hand auf die Schulter, während wir den Flur entlanggehen. Ich bringe sie zu Bett und stopfe die Decke fest, ehe ich mich neben sie lege. Ich wünsche ihr die süßesten Träume und streiche ihr das Haar aus dem Gesicht, während ich flüstere: »Keine Sorge. Schlaf ruhig ein. Es gibt keine Gespenster.«
SIEBENUNDVIERZIG
Ever, bist du fertig? Wir müssen los! Wir wollen nicht in den Stau kommen!«
»Bin schon unterwegs!«, brülle ich, obwohl das gar nicht stimmt. Ich stehe nämlich wie angewurzelt mitten in meinem Zimmer und starre auf einen zerknitterten Zettel, den ich in der Vordertasche meiner Jeans gefunden habe. Und obwohl er in meiner Handschrift geschrieben ist, habe ich keine Ahnung, wie er dorthin gekommen ist, geschweige denn, was er bedeutet. Da steht:
1. Kehr nicht wegen dem Sweatshirt um!
2. Trau Drina nicht über den Weg!
3. Kehr auf gar keinen Fall wegen dem Sweatshirt um!
4. Damen (in love)
Als ich alles zum fünften Mal lese, bin ich noch genauso verwirrt wie beim ersten Mal. Ich meine, was für ein Sweatshirt denn? Und warum soll ich nicht deswegen umkehren? Außerdem - kenne ich überhaupt eine Drina? Und wer zum Henker ist Damen, und warum steht ein Herzchen hinter seinem Namen?
Ich meine, warum habe ich das eigentlich alles aufgeschrieben? Wann habe ich es aufgeschrieben? Und was in aller Welt soll es bedeuten?
Als mein Dad noch mal ruft, gefolgt vom Klang seiner Schritte, die die Treppe hinaufstürmen, werfe ich den Zettel beiseite, sehe zu, wie er auf meiner Kommode landet, ehe er zu Boden fällt, und sage mir, dass sich schon alles klären wird, wenn wir wieder zurück sind.
Das Wochenende hat mir richtig gut getan. Es war gut, mal von meiner Schule wegzukommen, gut, von meinen Freundinnen (und meinem Freund) wegzukommen. Es war gut, mal auf eine Weise, wie wir es nicht allzu oft schaffen, Zeit mit der Familie zu verbringen. Ja, inzwischen geht es mir sogar so viel besser, dass ich, sobald wir wieder in der Zivilisation angelangt sind und mein
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