Der blaue Mond
supererfolgreiche Tante, die noch nie einen Fall vor Gericht verloren hat, will meine Anerkennung.
»Nur eines«, drängt sie. »Schließlich versuche ich nicht, dich zu vergiften!« Als ich ihren Blick auffange, fällt mir zwangsläufig ihre scheinbar zufällige Wortwahl auf, und ich frage mich, ob es eine Art Botschaft ist, die mich zur Eile antreiben soll, doch ich weiß, ich muss erst das hier hinter mich bringen. »Wahrscheinlich sind sie nicht annähernd so gut wie die von deiner Mom, weil ihre einfach die absolut allerbesten waren, aber es ist ihr Rezept. Irgendwie bin ich heute Morgen mit diesem unbezwingbaren Drang aufgewacht, welche zu backen. Und da dachte ich ...«
Da ich weiß, dass sie in ihrem Eifer, mich zu überzeugen, dazu fähig wäre, ein komplettes Plädoyer zu halten, greife ich nach dem Stapel Brownies und nehme mir das kleinste in der Absicht, es schnell zu verdrücken und dann abzuhauen. Doch als ich den unverkennbaren Buchstaben E mitten darauf eingeritzt sehe, weiß ich es. Es ist das Zeichen für mich.
Das Zeichen, auf das ich die ganze Zeit gewartet habe.
Gerade als ich die Hoffnung aufgegeben hatte, hat sich Riley bemerkbar gemacht und genau wie früher das kleinste Brownie auf dem Teller mit meinem Anfangsbuchstaben gekennzeichnet.
Als ich nach dem größten Ausschau halte und ein R hineingeritzt sehe, weiß ich definitiv, dass es Riley war. Die geheime Botschaft, das Zeichen, das sie mir versprochen hat, kurz bevor sie mich für immer verlassen hat.
Aber da ich schließlich keine Irre mit Wahnvorstellungen sein will, die geheime Botschaften aus einem Teller Plätzchen herausliest, sehe ich Sabine an und frage: »Hast du ...« Ich zeige auf mein Brownie, das, in dessen Mitte mein Anfangsbuchstabe eingeritzt ist. »Hast du das gemacht?«
Sie schielt erst zu mir her und dann auf das Brownie, ehe sie den Kopf schüttelt und sagt: »Hör mal, Ever, wenn du es nicht probieren willst, dann musst du auch nicht, ich dachte nur...«
Doch noch ehe sie zu Ende gesprochen hat, habe ich es bereits vom Teller genommen und in den Mund gesteckt. Mit geschlossenen Augen schmecke ich seine saftige Süße und versinke augenblicklich in heimatlichen Gefühlen. Dieser wundervolle Ort, den ich das Glück hatte, noch einmal besuchen zu dürfen, auch wenn es noch so kurz war, um endlich zu begreifen, dass Heimat nicht auf einen einzigen Ort beschränkt ist, sondern dort ist, wo man sich eine Heimat schafft.
Sabine sieht mich mit gespannter Miene an und wartet auf meine Zustimmung. »Ich habe sie schon einmal gemacht, aber irgendwie sind sie nicht halb so gut geworden wie die von deiner Mom.« Sie zuckt die Achseln, sieht mich schüchtern an und wartet auf mein Urteil. »Sie hat immer darüber gewitzelt, dass sie eine geheime Zutat verwendet hat, aber inzwischen frage ich mich, ob das nicht sogar stimmt.«
Ich schlucke schwer, wische mir die Krumen von den Lippen und lächele. »Es gab tatsächlich eine geheime Zutat«, sage ich. Ihre Miene verdüstert sich, und sie fürchtet schon, dass sie mir nicht schmecken. »Die geheime Zutat war Liebe«, erkläre ich ihr. »Und du musst eine ganze Menge davon genommen haben, denn sie schmecken sagenhaft.«
»Ehrlich?« Ihre Augen leuchten auf.
»Ehrlich.« Ich umarme sie, mache mich aber schnell wieder los. »Heute ist doch Freitag, oder?«
Sie sieht mich mit zusammengekniffenen Brauen an. »Ja, heute ist Freitag. Warum? Ist alles in Ordnung?«
Doch ich nicke nur und stürme zur Tür hinaus, da mir nun noch weniger Zeit bleibt, als ich dachte.
NEUNUNDVIERZIG
Ich biege in Avas Einfahrt ein, stelle das Auto schlampig ab und laufe so schnell zur Haustür, dass ich die Stufen kaum wahrnehme. Doch sowie ich oben ankomme, trete ich einen Schritt zurück, denn irgendetwas wirkt unheimlich, verkehrt und auf eine Art, die ich nicht erklären kann, sonderbar. Irgendwie zu ruhig, zu still. Obwohl das Haus genauso aussieht wie zuletzt - Blumentöpfe auf beiden Seiten der Tür, Fußmatte an Ort und Stelle -, ist es auf beklemmende Weise statisch. Und als ich an die Tür klopfe, schwingt sie einfach auf.
Ich gehe durchs Wohnzimmer in die Küche, rufe nach Ava und stelle fest, dass alles noch genauso ist wie bei meinem letzten Besuch - Teetasse auf der Arbeitsfläche, Kekse auf einem Teller, alles an seinem gewohnten Platz. Doch als ich in den Küchenschrank spähe und sehe, dass Gegengift und Elixier weg sind, weiß ich nicht, was ich denken soll. Ich habe keine
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