Der blaue Mond
Wange, sieht mir in die Augen und hält nur inne, um gelegentlich einen Schluck seines Getränks zu nehmen.
Wenn er sich so benimmt, tut er dies einerseits aus Liebe und andererseits, um all den Lärm und die Energie abzudämpfen - all die zufälligen Bilder, Geräusche und Farben, die permanent auf mich einströmen. Seit ich den Schutzschild zerstört habe, den ich mir vor ein paar Monaten aufgebaut hatte, einen Schild, der alles abgeblockt und mich so unwissend gemacht hat wie vor meinem Tod, muss ich erst noch eine Methode finden, um ihn zu ersetzen und all die Energien einzufangen, die ich haben will, sowie die Energien auszusperren, die ich nicht will. Doch da Damen nie damit zu kämpfen hatte, weiß er nicht, wie er es mir beibringen soll. Im Moment kommt es mir auch gar nicht so dringend vor, da allein der Klang seiner Stimme die Welt zum Schweigen bringen kann, während die Berührung seiner Haut meinen ganzen Körper kribbeln lässt. Und wenn ich ihm in die Augen sehe, bin ich einfach auf der Stelle von seiner wundervollen, warmen, magnetischen Anziehungskraft überwältigt - als gäbe es nur noch ihn und mich, und alles aridere hätte aufgehört zu existieren. Damen ist quasi mein idealer Schutzschild. Meine ultimative andere Hälfte. Und selbst wenn wir nicht zusammen sein können, haben die telepathischen Gedanken und Bilder, die er mir schickt, die gleiche beruhigende Wirkung.
Doch heute dient all dieses süße Geflüster nicht ausschließlich dazu, mich abzuschirmen, sondern es geht in erster Linie um unsere bevorstehenden Pläne. Die Suite, die er im Montage Resort gebucht hat. Und wie lange er sich schon nach dieser Nacht sehnt.
»Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es ist, vierhundert Jahre auf jemanden zu warten?«, flüstert er, während seine Lippen den Rand meines Ohrs liebkosen.
»Vierhundert? Ich dachte, du lebst schon seit sechshundert Jahren?«, erwidere ich und weiche zurück, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können.
»Leider mussten erst zwei Jahrhunderte vergehen, bis ich dich gefunden habe«, flüstert er, »zwei sehr einsame Jahrhunderte, wie ich sagen muss.«
Ich schlucke schwer, da ich weiß, dass die Einsamkeit, von der er spricht, nicht unbedingt bedeutet, dass er allein war. Eher im Gegenteil. Doch ich spreche ihn nicht darauf an. Ich will nicht daran denken, wie er die ersten zweihundert Jahre ohne mich verbracht hat.
Oder wie er sich die nächsten vierhundert darüber hinweggetröstet hat, dass er mich andauernd verloren hat.
Und erst recht will ich nicht über die sechshundert Jahre nachdenken, die er mir darin voraushat, die - ähm - Kunst der Sinnenlust zu studieren und zu erproben.
Und ich werde auf keinen, wirklich auf gar keinen Fall über all die schönen und erfahrenen Frauen nachgrübeln, die er im Lauf dieser Jahre kennen gelernt hat.
Nö.
Mach ich nicht.
Kommt überhaupt nicht infrage.
»Soll ich dich um sechs Uhr abholen?«, fragt er, fasst mein Haar im Nacken zusammen und dreht es zu einem langen blonden Strick. »Wir können zuerst was essen gehen.«
»Außer dass wir eigentlich nicht essen«, rufe ich ihm in Erinnerung.
»Ach ja. Guter Einwand.« Er lächelt und lässt mein Haar los, sodass es mir wieder um die Schultern fließt und bis zu meiner Taille fällt. »Aber wir finden bestimmt auch etwas anderes, womit wir uns die Zeit vertreiben können, oder?«
Ich lächele, denn ich habe Sabine bereits erzählt, dass ich bei Haven übernachte, und hoffe, dass sie nicht nachforscht. Früher hat sie mir immer vertraut, doch seit ich beim Trinken erwischt und vom Unterricht suspendiert worden bin und praktisch aufgehört habe zu essen, neigt sie dazu, den Dingen auf den Grund zu gehen.
»Bist du sicher, dass dir das alles recht ist?«, fragt Damen, der meinen Gesichtsausdruck fälschlicherweise als unentschlossen deutet, wo er doch nur meine Nervosität zeigt.
Ich lächele und beuge mich zu ihm hinüber, um ihn zu küssen, begierig, jegliche eventuellen Zweifel (eher meine als seine) auszuräumen, als Miles seine Tasche auf den Tisch wirft und sagt: »Oh, Haven, schau mal. Sie sind zurück. Die Turteltäubchen sind wieder da!«
Ich mache mich mit verlegen gerötetem Gesicht los, während Haven nur lacht, sich neben ihn setzt und sich nach den anderen Tischen umdreht. »Wo ist denn Roman? Hat ihn irgendjemand gesehen?«
»Er war mit mir in der Freistunde«, antwortet Miles beiläufig, ehe er den Deckel von seinem Joghurt abzieht und sich über
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