Der blaue Mond
frage, was für ein Ritual sie als Nächstes mit uns vorhat.
»Gut. Denn jetzt musst du die Führung übernehmen.« Sie lacht. »Ich bin nämlich noch nie dort gewesen. Jetzt verlasse ich mich darauf, dass du uns den Weg weist.«
VIERUNDZWANZIG
Ich hätte nie gedacht, dass es so leicht ist. Hätte nie geglaubt, dass wir ins Sommerland gelangen könnten. Doch kaum habe ich uns durch das Ritual, die Augen zu schließen und uns ein strahlendes Portal aus glänzendem Licht vorzustellen, geführt, da haben wir uns schon an den Händen gefasst, sind mitten hindurchgepurzelt und Seite an Seite auf diesem seltsam elastischen Gras gelandet.
Ava sieht mich an, mit weiten Augen und offenem Mund, jedoch außer Stande zu sprechen.
Ich nicke nur, weil ich weiß, wie sie sich fühlt. Auch wenn ich schon hier gewesen bin, wird es dadurch nicht weniger surreal.
»Hey, Ava«, sage ich, stehe auf und klopfe mir die Hinterseite meiner Jeans ab. Jetzt will ich unbedingt Fremdenführerin spielen und ihr zeigen, wie magisch dieser Ort sein kann. »Stell dir was vor. Irgendwas. Einen Gegenstand, ein Tier oder auch eine Person. Schließ einfach die Augen, und mal es dir so deutlich wie möglich aus, dann ...«
Ich beobachte, wie sie die Augen schließt, und bin ganz aufgeregt, als ihre Brauen verschmelzen und sie sich auf das Objekt ihrer Wahl konzentriert.
Als sie die Augen wieder öffnet, schlägt sie sich die Hände vor die Brust, sieht nach vorn und schreit auf. »Oh! Oh, das kann nicht sein! Schau nur, er sieht genauso aus wie er und wirkt ganz echt!«
Sie kniet sich ins Gras, schlägt die Hände zusammen und lacht selig, als ein wunderschöner Golden Retriever in ihre Arme springt und ihr mit langer, nasser Zunge die Wangen leckt. Sie drückt ihn fest an sich und murmelt immer wieder seinen Namen. Es ist meine Pflicht, sie darauf hinzuweisen, dass er nicht echt ist.
»Ava, ähm, es tut mir leid, aber er wird sich leider nicht...« Doch noch ehe ich zu Ende sprechen kann, entgleitet ihr der Hund und verblasst zu einem Muster aus vibrierenden Pixeln, die schon bald völlig verschwinden. Als ich ihre verzweifelte Miene sehe, wird mir ganz flau, und ich kriege ein schlechtes Gewissen, weil ich dieses Spiel angefangen habe. »Ich hätte es dir erklären sollen«, sage ich und wünschte, ich wäre nicht so impulsiv gewesen. »Es tut mir wirklich leid.«
Doch sie nickt nur und kämpft mit den Tränen, während sie sich das Gras von den Knien wischt. »Schon in Ordnung. Ich wusste ja, dass es zu schön war, um wahr zu sein, aber ihn einfach wiederzusehen, einfach nur diesen Augenblick zu haben ...« Sie zuckt mit den Schultern. »Ehrlich, auch wenn er nicht echt war, bereue ich es nicht im Geringsten. Also brauchst du es auch nicht zu bereuen, okay?« Sie packt meine Hand und drückt sie fest. »Er hat mir so gefehlt, und ihn nur diese paar kurzen Sekunden zu haben, war ein rares und wertvolles Geschenk. Ein Geschenk, das ich dir verdanke.«
Ich nicke und hoffe, sie meint es ernst. Und obwohl wir die nächsten Stunden damit verbringen könnten, alles zu manifestieren, was unser Herz begehrt, sehnt sich mein Herz, offen gestanden, nur nach einem. Und nachdem ich Avas Wiedersehen mit ihrem geliebten Hund miterlebt habe, erscheint mir die Freude an materiellen Dingen nicht mehr lohnend.
»Das ist also Sommerland«, sagt sie und sieht sich um.
»Das ist es.« Ich nicke. »Aber ich habe noch nicht mehr davon gesehen als dieses Feld, diesen Bach und ein paar andere Dinge, die nicht existiert haben, ehe ich sie hier manifestiert habe. Ach, und siehst du die Brücke? Da drüben in der Ferne, wo sich der Nebel herabsenkt?«
Sie wendet sich um und nickt, als sie sie sieht.
»Geh nicht dorthin. Sie führt auf die andere Seite. Das ist die Brücke, von der dir Riley erzählt hat, die Brücke, zu deren Überquerung ich sie schließlich überredet habe - nachdem du mich sanft dazu gedrängt hast.«
Ava mustert die Brücke mit schmalen Augen. »Was wohl passiert, wenn man versucht, sie zu überqueren? Du weißt schon, ohne zu sterben, ohne eine solche Einladung?«
Doch ich zucke nur die Achseln, da ich überhaupt nicht neugierig darauf bin, es je auszuprobieren. »Ich würde es nicht empfehlen«, sage ich, als ich ihren Blick sehe und begreife, dass sie tatsächlich darüber nachdenkt und sich fragt, ob sie hinübergehen soll, womöglich bloß aus reiner Neugier. »Vielleicht kämst du nicht mehr zurück«, füge ich hinzu und versuche,
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