Der blaue Mond
auf das potenzielle Risiko hinzuweisen, da sie es nicht zu begreifen scheint. Wahrscheinlich hat Sommerland diese Wirkung - es ist so schön und magisch, dass es einen in Versuchung führt, Wagnisse einzugehen, von denen man normalerweise die Finger lassen würde.
Sie schaut mich an, nach wie vor nicht restlos überzeugt, aber zu begierig darauf, mehr zu sehen und nicht bloß hier herumzusitzen. Und so hakt sie sich bei mir ein und sagt: »Wo fangen wir an?«
Da keine von uns weiß, wo wir anfangen sollen, fangen wir mit Gehen an. Wir schlendern durch die Wiese der tanzenden Blumen, bahnen uns den Weg durch den Wald der pulsierenden Bäume, überqueren den regenbogenfarbenen Bach, in dem die verschiedensten Fische schwimmen, bis wir einen Weg finden, der uns, nachdem er sich endlos in Kurven, Biegungen und Mäandern gewunden hat, auf eine lange, leere Straße führt.
Es ist weder ein gelber Ziegelsteinweg, noch ist die Straße mit Gold belegt. Es ist nur eine völlig normale Straße aus ganz alltäglichem Asphalt, wie man sie von zu Hause kennt.
Obwohl ich zugeben muss, dass sie besser ist als die Straßen zu Hause, denn sie ist sauber und nagelneu, ohne Schlaglöcher oder Bremsspuren. Ja, alles hier ringsumher wirkt so unberührt und neu, dass man glauben könnte, es sei noch nie benutzt worden, obwohl Sommerland doch - zumindest laut Ava - in Wirklichkeit älter ist als die Zeit selbst.
»Was genau weißt du eigentlich über diese Tempel oder die Großen Hallen des Wissens, wie du sie nennst?«, frage ich und sehe zu einem beeindruckenden weißen Marmorgebäude hinauf, in dessen Säulen alle möglichen Engel und mythischen Figuren gemeißelt sind, und frage mich, ob das der Ort sein könnte, den wir suchen. Ich meine, es sieht prunkvoll, aber seriös aus, imposant, aber nicht einschüchternd, also alles in allem eine Halle der höheren Bildung, wie ich sie mir vorstelle.
Doch Ava zuckt lediglich mit den Schultern, als wäre sie nicht mehr daran interessiert. Was ein bisschen unverbindlicher ist, als ich es mir erhofft habe.
Sie war sich so sicher, die Antwort hier zu finden, hat so massiv darauf bestanden, dass wir unsere Energien bündeln und gemeinsam reisen, doch jetzt, da wir es geschafft haben, hat sie sich ein bisschen zu sehr in die Macht der augenblicklichen Manifestierung verliebt, um sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren.
»Ich weiß nur, dass es sie gibt«, sagt sie, während sie die Hände vor sich ausstreckt und sie mal in diese und mal in die andere Richtung dreht. »Ich habe sie im Zuge meiner Studien oft erwähnt gefunden.«
Trotzdem studierst du im Moment bloß noch die mit dicken Edelsteinen besetzten Ringe, die du dir an die Finger manifestiert hast!, denke ich, ohne es auszusprechen, jedoch im Wissen, dass sie, wenn sie das Interesse aufbrächte, mal aufzusehen, den Groll von meiner Miene ablesen könnte.
Aber sie lächelt nur und manifestiert passend zu ihren neuen Ringen eine Reihe Armreifen. Als sie zu ihren Füßen hinabstarrt, um sich neue Schuhe zu machen, weiß ich, dass ich sie in ihre Grenzen weisen muss.
»Was sollen wir denn tun, wenn wir dort sind?«, frage ich, damit sie sich auf den wahren Grund konzentriert, aus dem wir hier sind. Ich meine, ich habe meinen Teil erfüllt, also könnte sie sich wenigstens revanchieren und mir helfen, den Weg zu finden. »Und wonach recherchieren wir, wenn wir sie gefunden haben? Plötzliche Kopfschmerzen? Unkontrollierbare, extreme Schweißausbrüche? Und werden sie uns überhaupt einlassen?«
Ich wende mich um und erwarte schon eine Gardinenpredigt über meine hartnäckige Schwarzseherei, meinen galoppierenden Pessimismus, der sich immer wieder für eine Weile legt, jedoch nie ganz verschwindet - nur um festzustellen, dass sie gar nicht mehr da ist.
Und zwar ist sie eindeutig, hundertprozentig und komplett verschwunden!
»Ava!«, rufe ich und drehe mich wieder und wieder nach allen Seiten um, blinzele in den schimmernden Nebel, das ewige Strahlen, das von keinem speziellen Ort ausgeht, sondern irgendwie alles durchdringt. »Ava, wo bist du?«, schreie ich, renne die lange, leere Straße entlang, bleibe stehen, um in Fenster und Türen zu spähen, und frage mich, warum es hier so viele Läden und Restaurants und Kunstgalerien und Friseursalons gibt, da doch niemand hier ist, der sie braucht.
»Du wirst sie nicht finden.«
Ich wende mich um und sehe ein zierliches, dunkelhaariges Mädchen hinter mir stehen. Das extrem glatte
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