Der blaue Mond
»Meine Schwester findet, du stellst zu viele Fragen.«
Rayne zieht eine finstere Miene und schlägt sie fest mit der Faust auf den Arm, doch Romy lacht nur.
Und während ich die beiden mustere und dabei Raynes anhaltend grollenden Blick ebenso verkraften muss wie Romys Vorliebe dafür, in Rätseln zu sprechen, merke ich, dass die beiden - so unterhaltsam sie auch sind - mir langsam auf die Nerven gehen. Ich habe etwas zu erledigen, ich muss die Tempel ausfindig machen, und dieses verwirrende Wortgeplänkel wird langsam zu einer massiven Zeitverschwendung.
Zu spät fällt mir ein, dass die beiden ja meine Gedanken lesen können, als Romy bereits nickt und sagt: »Wie du willst. Wir zeigen dir den Weg.«
FÜNFUNDZWANZIG
Sie führen mich durch mehrere Straßen, wobei die beiden mit so schnellem Schritt Seite an Seite marschieren, dass ich kaum mitkomme. Wir passieren Straßenverkäufer, die alle möglichen Dinge anbieten - von handgezogenen Kerzen bis hin zu zierlichem Holzspielzeug. Die Kunden stehen nach diesen sorgfältig verpackten Objekten Schlange und vergeben als Gegenleistung nur ein freundliches Wort oder ein Lächeln. Wir gehen an Obstständen, Süßigkeitenläden und ein paar schicken Boutiquen vorüber, ehe wir an einer Ecke stehen bleiben, wo erst eine Pferdekutsche und dann ein Rolls-Royce mit Chauffeur unseren Weg kreuzen.
Gerade als ich fragen will, wie all diese Dinge an ein und demselben Ort existieren, wie scheinbar uralte Gebäude neben den elegantesten, modernsten Hochhäusern stehen können, sieht Romy mich an und sagt: »Ich hab's dir doch schon erklärt. Sommerland enthält das Potenzial für alles. Und weil sich verschiedene Menschen verschiedene Dinge wünschen, wurde so gut wie alles, was du dir vorstellen kannst, erschaffen.«
»Dann wurde das hier alles manifestiert ?«, frage ich und sehe mich ehrfürchtig um, während Romy nickt und Rayne weiterstürmt. »Doch wer manifestiert diese Dinge? Tagesausflügler wie ich? Lebende oder Tote?« Ich schaue zwischen Romy und Rayne hin und her und weiß, dass meine Frage auch sie betrifft, denn obwohl sie an der Oberfläche ganz normal wirken, haben sie etwas sehr Sonderbares an sich, etwas beinahe Unheimliches und auch Zeitloses.
Gerade als ich den Blick auf Romy hefte, spricht Rayne mich zum ersten Mal an. »Du hast dir gewünscht, die Tempel zu finden, also helfen wir dir. Aber täusch dich nicht, wir sind keineswegs verpflichtet, deine Fragen zu beantworten. Manches im Sommerland geht dich einfach nichts an.«
Ich schlucke schwer, sehe Romy an und frage mich, ob sie einschreiten und sich für ihre Schwester entschuldigen wird, doch sie führt uns lediglich eine andere ziemlich bevölkerte Straße entlang, durch eine leere Gasse und auf einen stillen Boulevard, wo sie vor einem prachtvollen Gebäude Halt macht.
»Sag mir, was du siehst«, fordert sie mich auf, während sie und ihre Schwester mich aufmerksam beäugen.
Ich bestaune mit großen Augen und offenem Mund das großartige Gebäude vor mir, mustere seine aufwändigen steinernen Verzierungen, das breite, geneigte Dach, die wuchtigen Säulen und die imposanten Türen - all seine großzügigen und variantenreichen Teile, die immer wieder wechseln und sich verschieben und Bilder des Parthenon, des Tadsch Mahal, der Pyramiden von Gizeh und des Lotustempels heraufbeschwören. In meinem Kopf vermischen sich die Bilder, während das Gebäude ständig neue Formen annimmt, bis die größten Tempel der Welt und sämtliche Weltwunder klar in seiner sich stetig wandelnden Fassade repräsentiert sind.
Ich sehe - ich sehe alles!, denke ich, außer Stande, die Worte zu äußern. Die ehrfurchtgebietende Schönheit vor meinen Augen hat mich sprachlos gemacht.
Ich wende mich an Romy und frage mich, ob sie auch sieht, was ich sehe, als sie Rayne unsanft auf den Arm schlägt und zischt: »Ich hab's dir doch gesagt!«
»Der Tempel ist aus der Energie, der Liebe und dem Wissen aller guten Dinge gebaut.« Sie lächelt. »Alle, die das sehen können, dürfen eintreten.«
Sowie ich das höre, stürme ich die weite Marmortreppe hinauf, begierig, diese majestätische Fassade zu durchschreiten und zu sehen, was sich drinnen befindet. Doch vor der riesigen Doppeltür wende ich mich um und frage: »Kommt ihr mit?«
Rayne funkelt mich nur an, die Augen argwöhnisch zusammengekniffen, während sie offenbar wünscht, sich nie mit mir eingelassen zu haben. Romy dagegen schüttelt den Kopf und sagt: »Du
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