Der blaue Mond
ausgewählte Kräuter mit Mörser und Stößel zermahlt, ehe er sorgfältig Salze, Öle, farbige Tinkturen und Erze abwiegt, die sein Vater anschließend in die blubbernden Glaskolben gibt. Vor jedem Schritt hält er inne und kündigt an, was er tut, um seinen Sohn in der gemeinsamen Aufgabe zu unterweisen.
»Wir streben nach Verwandlung. Nach dem Wandel von Krankheit zu Gesundheit, von Alter zu Jugend, von Blei zu Gold, und vielleicht sogar nach Unsterblichkeit. Alles stammt von einem einzigen Grundelement ab, und wenn wir das auf seinen Kern zurückführen können, dann können wir daraus alles erschaffen!«
Damen lauscht fasziniert und saugt jedes Wort seines Vaters gierig auf, obwohl er die gleichen Sätze schon mehrmals vernommen hat. Und obwohl sie Italienisch sprechen, eine Sprache, die ich nie gelernt habe, verstehe ich irgendwie jedes Wort.
Er nennt jede Zutat, ehe er sie hinein gibt und dann, nur für heute, beschließt, die letzte noch wegzulassen - überzeugt, dass diese letzte Zutat, dieses merkwürdig aussehende Kraut, den Zauber noch verstärkt, wenn er es zu einem Elixier dazugibt, das schon drei Tage gereift ist.
Nachdem er das schillernde rote Gebräu in ein kleineres Glasfläschchen gegeben hat, deckt Damen es sorgfältig ab und stellt es in einen verborgenen Schrank. Sie haben gerade ihr Durcheinander aufgeräumt, als Damens Mutter -eine Schönheit mit sahneweißem Teint in einem schlichten Kleid aus Moireseide, das goldblonde Haar an den Seiten gewellt und am Hinterkopf von einer kleinen Kappe zusammengehalten - hereinkommt, um sie zum Essen zu rufen. Ihre Liebe ist so offensichtlich, so unleugbar und zeigt sich in dem Lächeln, das sie ihrem Gatten schenkt ebenso wie in dem Blick, den sie Damen zuwirft, und die dunklen, seelenvollen Augen der beiden geben einen perfekten Spiegel füreinander ab.
Gerade als sie sich zum Abendessen nach Hause aufmachen wollen, kommen drei dunkelhäutige Männer zur Tür hereingestürmt. Sie überwältigen Damens Vater und fordern das Elixier. Damens Mutter stößt ihren Sohn in den Schrank, wo es steht, und schärft ihm ein, drinnen zu bleiben und mucksmäuschenstill zu sein, bis er gefahrlos wieder herauskommen kann.
Damen kauert sich in den dunklen, feuchten Schrank und späht durch ein winziges Astloch hinaus. Er sieht, wie die Männer bei ihrer Suche die Werkstatt seines Vaters - sein Lebenswerk - zerstören. Doch obwohl sein Vater ihnen seine Notizen übergibt, reicht das nicht aus, um sie zu retten. Der zitternde Damen muss hilflos zusehen, wie seine Eltern ermordet werden.
Ich sitze auf der weißen Marmorbank, mir ist schwindelig, und mein Magen rebelliert, und ich spüre alles, was Damen spürt, seinen Gefühlsaufruhr, seine abgrundtiefe Verzweiflung - mein Blick ist getrübt von seinen Tränen, und mein Atem geht heiß, abgehackt und ununterscheidbar von seinem. Wir sind jetzt eins, verbunden in unvorstellbarem Schmerz.
Wir kennen beide die gleiche Art von Verlust.
Wir glauben beide, dass wir irgendwie daran schuld sind.
Er wäscht ihre Wunden und versorgt ihre Leichname in der festen Überzeugung, dass er binnen dreier Tage die letzte Zutat, das merkwürdig aussehende Kraut, beimengen und sie beide wieder zum Leben erwecken kann. Doch an diesem dritten und letzten Tag wird er von einer Gruppe Nachbarn aufgescheucht, die der Geruch gestört hat. Sie finden ihn zusammengerollt neben den beiden Toten, das Fläschchen mit dem Elixier fest in der Hand.
Er wehrt sich, schnappt sich das Kraut und mischt es mit letzter Kraft hinein. Entschlossen, seinen Eltern das Elixier zu geben und sie beide davon trinken zu lassen, wird er jedoch von seinen Nachbarn überwältigt, ehe er dazu kommt.
Da die Nachbarn ihn verdächtigen, eine Form von Hexerei zu praktizieren, wird er zum Kirchenmündel erklärt. Untröstlich über den Verlust seiner Eltern und aus allem, was er kennt und liebt, herausgerissen, wird er daraufhin von Priestern misshandelt, die ihm den Teufel austreiben wollen.
Er leidet schweigend, jahrelang - bis Drina auf den Plan tritt. Und Damen, inzwischen ein starker und schöner junger Mann von vierzehn Jahren, ist gebannt von ihrem feuerroten Haar, ihren smaragdgrünen Augen und ihrer milchweißen Haut. Sie ist so schön, dass man den Blick kaum abwenden kann.
Ich sehe sie zusammen und kann fast nicht mehr atmen, als sie eine derart liebevolle und beschützende Beziehung zueinander aufbauen, dass ich es bereue, je darum gebeten zu haben, dies
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