Der blaue Mond
sehen zu dürfen. Ich war voreilig, impulsiv und skrupellos und habe mir nicht die Zeit genommen, alles zu durchdenken. Denn obwohl sie nun tot ist und keine Bedrohung mehr für mich darstellt, ist es unerträglich für mich zuzusehen, wie er ihrem Zauber erliegt.
Er versorgt die Wunden, die ihr die Priester zugefügt haben, und behandelt sie mit großem Respekt und enormer Umsicht. Dabei unterdrückt er seine unleugbare Faszination für sie, entschlossen, sie lediglich zu beschützen, zu retten und ihr zur Flucht zu verhelfen. Die Gelegenheit kommt wesentlich früher als erwartet, als die Pest durch Florenz zieht - der gefürchtete Schwarze Tod, der Millionen von Menschen umbringt und seine Opfer zu einer leidenden Masse aufgeblähter, von Eiterbeulen geplagter Kranker macht.
Hilflos sieht er zu, wie etliche der anderen Waisenkinder krank werden und sterben, doch erst als Drina betroffen ist, kehrt er zum Lebenswerk seines Vaters zurück. Erneut mischt er das Elixier, dem er all die Jahre abgeschworen hat, da es für ihn untrennbar mit allem verbunden ist, was ihm lieb und teuer war. Doch jetzt bleibt ihm keine andere Wahl, und da er Drina nicht verlieren will, lässt er sie davon trinken. Dabei behält er genug für sich selbst und die anderen Waisenkinder zurück, in der Hoffnung, sie vor der Krankheit zu schützen, ohne zu ahnen, dass der Trank auch unsterblich macht.
Beseelt von einer Macht, die sie nicht begreifen, und immun gegenüber den Todesklagen der kranken und sterbenden Priester, verlassen die Waisen ihre Wohnstatt. Sie ziehen durch die Straßen von Florenz, wo sie die Leichen fleddern, während Damen mit Drina an seiner Seite nur ein Ziel kennt: die Rache an den drei Männern, die seine Eltern ermordet haben. Schließlich findet er sie sogar, jedoch nur um festzustellen, dass sie in Ermangelung der letzten Zutat von der Pest befallen worden sind.
Er wartet auf ihren Tod und quält sie mit dem Versprechen einer Heilung, das er nie zu halten beabsichtigt. Erstaunt von der Schalheit seines Sieges, als ihre Körper schließlich der Pest erliegen, wendet er sich Drina zu und sucht Trost in ihrer liebenden Umarmung ...
Ich schließe die Augen und will das alles aussperren, obwohl ich weiß, dass es für immer dort eingebrannt ist, ganz gleich, wie sehr ich mich auch bemühe. Denn zu wissen, dass sie fast sechshundert Jahre lang immer wieder ein Liebespaar waren, ist eine Sache. Das Ganze mit eigenen Augen mit ansehen zu müssen aber eine ganz andere.
Und obwohl ich es nur höchst ungern zugebe, kann ich einfach nicht übersehen, dass der alte Damen mit seiner Grausamkeit, seiner Gier und seiner Eitelkeit viel mit dem neuen Damen gemein hat - dem Damen, der mich wegen Stacia verlassen hat.
Nachdem ich mehr als ein Jahrhundert lang verfolgt habe, wie die beiden durch ein Band nie endender Lust und Gier miteinander verbunden waren, habe ich kein Interesse mehr an dem Teil, wo wir uns kennen lernen. Kein Interesse mehr daran, frühere Versionen von mir zu sehen. Wenn das heißt, dass ich mir noch mal hundert Jahre davon ansehen muss, dann ist es die Sache einfach nicht wert.
Und gerade als ich die Augen schließe und innerlich flehe - Bitte komm einfach zum Ende! Bitte! Ich ertrage es nicht, auch nur noch eine weitere Szene von alldem zu sehen! -, beginnt die Kristallscheibe zu flackern und zu flimmern, und ein Gewirr von Bildern rast darüber hinweg, so schnell, dass ich ein Bild kaum vom nächsten unterscheiden kann. Nur kurz mache ich Damen, Drina und mich in meinen verschiedenen Inkarnationen aus - brünett, rothaarig, blond -, während alles an mir vorübersaust, Gesicht und Körper unkenntlich, nur die Augen sind stets vertraut.
Selbst als ich es mir anders überlege und darum bitte, die Bilder langsamer ablaufen zu lassen, sausen sie ungebremst weiter. Schließlich erscheint ein Bild von Roman mit aufgeworfenen Lippen und triumphierender Miene, wie er auf einen sehr alten, sehr toten Damen herabblickt.
Und dann ...
Und dann - nichts.
Die Kristallscheibe erlischt.
»Nein!« schreie ich, wobei meine Stimme von den Wänden des hohen, leeren Raums abprallt und als Echo zurückkommt. »Bitte!«, flehe ich. »Komm zurück! Ich benehme mich besser. Ehrlich! Ich verspreche, weder eifersüchtig noch wütend zu werden. Ich sehe mir alles an, aber bitte spul zurück!«
Doch wie sehr ich auch bettele, wie sehr ich darum flehe, es noch einmal sehen zu dürfen - die Kristallscheibe ist weg, spurlos
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