Der blaue Mond
überhaupt nichts schlicht ist. Es ist ein echtes Weiß, ein Weiß im reinsten Sinne. Eines, das man nur erhält, wenn man alle Farben miteinander mischt - ein ganzes Spektrum von Pigmenten, die allesamt miteinander verschmelzen, um die ultimative Lichtfarbe zu erzeugen -, genau wie ich es im Kunstunterricht gelernt habe. Und abgesehen von der üppigen Ansammlung von Prismen, die von der Decke hängen und mit ihren gewiss mehreren Tausend fein geschliffener Kristalle schimmernd und blinkend ein durch den Raum wirbelndes Farbkaleidoskop erzeugen, ist der einzige andere Gegenstand im Raum eine einzelne Marmorbank, die merkwürdig warm und bequem ist, vor allem für ein Material, das dafür bekannt ist, alles andere als das zu sein.
Nachdem ich mich gesetzt und die Hände im Schoß gefaltet habe, sehe ich zu, wie sich die Wände hinter mir hermetisch verschließen, als hätte es den Korridor, der mich hierher geführt hat, nie gegeben.
Doch ich habe keine Angst. Obwohl es keinen sichtbaren Ausgang gibt und es den Anschein hat, als sei ich in diesem merkwürdigen runden Raum gefangen, fühle ich mich sicher, in Frieden und geborgen. Als würde der Raum mich umhüllen, mich trösten und mich in seinen runden Wänden wie in großen, starken Armen aufnehmen.
Ich hole tief Luft und wünsche mir Antworten auf alle meine Fragen, während eine große Kristallscheibe direkt vor mir erscheint, dort an einer zuvor leeren Stelle schwebt und darauf wartet, dass ich den nächsten Schritt tue.
Doch jetzt, da ich der Antwort so nahe bin, hat sich auf einmal meine Frage verändert.
Anstatt mich also auf die Frage: Was ist mit Damen los, und wie kann ich es beheben? zu konzentrieren, denke ich jetzt: Zeig mir alles, was ich über Damen wissen muss.
Dies könnte meine einzige Chance sein, so viel wie möglich über seine nebulöse Vergangenheit zu erfahren, über die er nicht sprechen will. Ich rede mir selbst ein, dass ich nicht spioniere, sondern nur nach Lösungen suche, und jede Information, die ich bekomme, lediglich meinem Anliegen dient. Denn wenn ich tatsächlich nicht würdig bin, es zu erfahren, dann wird mir auch nichts enthüllt. Also, was kann es dann schaden zu fragen? Und kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, als der Kristall zu surren beginnt. Er vibriert vor Energie, während eine Bilderflut seine Fläche überzieht, mit einem so klaren Bild, als wäre es HDTV.
Da ist eine kleine, vollgestopfte Werkstatt, deren Fenster mit einem schweren, dunklen Baumwollstoff verhängt sind und die von zahlreichen Kerzen erleuchtet wird. Und Damen ist da, kaum älter als drei Jahre, in einem einfachen braunen Kittel, der ihm bis über die Knie reicht. Er sitzt an einem Tisch voller kleiner, blubbernder Glaskolben, einem Haufen Steine, Dosen voller farbiger Pulver, Mörser und Stößel, Häufchen von Kräutern und Phiolen voller Färbemittel und sieht seinem Vater dabei zu, wie dieser seinen Federkiel in ein kleines Tintenfass tunkt und die Arbeit des Tages in einer Reihe komplizierter Symbole aufzeichnet. Immer wieder hält er inne und liest in einem Buch namens Corpus Hermeticum von Marsilio Ficino, während Damen ihn nachahmt und auf einem Blatt herumkritzelt.
Und er sieht so allerliebst aus, so rundwangig und engelsgleich, mit den braunen Haaren, die ihm über seine unverwechselbaren dunklen Augen fallen und sich in seinem zarten Babynacken kräuseln. Es sieht alles so real, so zugänglich und so nah aus, dass ich mir einbilde, ich brauchte nur Kontakt aufzunehmen, dann könnte ich seine Welt an seiner Seite miterleben.
Doch gerade als mein Finger sich nähert, erhitzt sich die Kristallscheibe auf eine unerträgliche Temperatur, und ich reiße die Hand zurück und sehe zu, wie meine Haut kurz Blasen schlägt und verbrennt, ehe sie augenblicklich wieder heilt. Die Grenzen stehen nun fest, ich darf zusehen, aber nicht eingreifen.
Das Bild springt im Schnellvorlauf zu Damens zehntem Geburtstag, einem ganz besonderen Tag, an dem er mit süßen Leckereien und einem spätnachmittäglichen Besuch in der Werkstatt seines Vaters verwöhnt wird. Die beiden teilen das wellige dunkle Haar, die glatte bräunliche Haut und das markante Kinn ebenso wie den Wunsch, das alchemistische Gebräu zu perfektionieren, das nicht nur Blei zu Gold zu machen verspricht, sondern auch das Leben auf unbestimmte Zeit verlängern kann - den sagenhaften Stein der Weisen.
Sie vertiefen sich in ihre Arbeit, ihre gewohnte Routine, wobei Damen
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