Der blaue Mond
gehe extra früh in den Englischklassenraum, damit ich auch alles von Anfang bis Ende mitbekomme. Ich will keine einzige Sekunde meiner geplanten Überwachungsaktion verpassen. Denn obwohl ich einen optischen Beweis dafür bekommen habe, dass Roman für Damens unerklärliche Verwandlung verantwortlich ist, bringt mich das nicht wesentlich weiter. Nun, da die Frage nach dem Wer geklärt ist, muss ich mich mit dem Wie und dem Warum beschäftigen.
Ich hoffe nur, es dauert nicht zu lange. Ich meine, zum einen vermisse ich Damen. Und zum anderen habe ich nur noch so wenig Unsterblichkeitssaft, dass ich ihn schon rationieren muss. Da Damen nie dazu gekommen ist, mir das Rezept dafür zu geben, habe ich keine Ahnung, wie ich für Nachschub sorgen soll, geschweige denn, was passiert, wenn er mir ganz ausgeht. Bestimmt nichts Gutes.
Zuerst dachte Damen, er brauchte das Elixier nur einmal zu trinken und wäre damit ein für alle Mal von sämtlichen Gebrechen geheilt. Und obwohl das die ersten hundertfünfzig Jahre galt, hat er begonnen, erneut davon zu trinken, als er die ersten leisen Anzeichen des Alterns an sich bemerkt hat. Und dann wieder. Bis er schließlich total abhängig davon wurde.
Ihm war auch nicht klar, dass ein Unsterblicher getötet werden kann, bis ich seine Exfrau Drina zur Strecke gebracht hatte. Und während wir uns alle beide sicher waren, dass die einzige Methode darin besteht, das schwächste Chakra anzugreifen (in Drinas Fall das Herzchakra), und ich nach wie vor davon überzeugt bin, dass wir die Einzigen sind, die das wissen, hat Roman - demzufolge, was ich gestern in der Akasha-Chronik gesehen habe - noch einen zweiten Weg entdeckt. Was bedeutet, dass ich, wenn ich Damen retten will, herausfinden muss, was Roman weiß, bevor es zu spät ist.
Als schließlich die Tür aufgeht, hebe ich den Kopf und sehe eine Horde Schüler hereinstürmen. Und obwohl ich es nicht zum ersten Mal erlebe, ist es immer noch schwer, mit anzusehen, wie sie alle miteinander lachen und scherzen und sich bestens verstehen, nachdem sie sich letzte Woche noch mehr oder weniger ignoriert haben. Und obwohl es genau die Art von Szene ist, von der jeder in seiner Highschool träumt, begeistert es mich angesichts der Umstände nicht unbedingt.
Dies liegt nicht allein daran, dass ich als Ausgestoßene bloß zuschauen kann, sondern daran, dass es gruselig, unnatürlich und bizarr ist. Ich meine, in Schulen läuft es einfach nicht so. Menschen funktionieren nicht so. Gleich und gleich werden sich immer zueinander gesellen, so ist es einfach. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz. Außerdem haben sie sich ja nicht aus eigenem Antrieb dazu entschlossen. Sie begreifen nämlich gar nicht, dass ihre ganzen Umarmungen, ihr Gelächter und ihre albernen Begrüßungen mit rituellem Handschlag nicht auf ihrer neu entdeckten Zuneigung zueinander beruhen, sondern dass allein Roman dafür verantwortlich ist.
Wie ein meisterhafter Marionettenspieler manipuliert er seine Objekte ganz nach Belieben - Roman führt Regie. Und obwohl ich nicht weiß, wie oder warum er das tut, und ich nicht beweisen kann, dass er es tatsächlich tut, weiß ich einfach tief in meinem Inneren, dass es stimmt. Es ist so klar wie das Stechen in meinem Magen oder die Kälte, die meine Haut überzieht, wenn er in der Nähe ist.
Ich sehe zu, wie Damen sich hinsetzt und Stacia sich an seine Bank lehnt. Ihr dick aufgepolsterter Busen schwebt direkt vor seinem Gesicht. Sie wirft die Haare nach hinten und lacht über ihren eigenen dummen Witz. Und obwohl ich nicht hören kann, was für einen Scherz sie gemacht hat, da ich sie gezielt ausgeschaltet habe, um Damen besser hören zu können, genügt mir schon die Tatsache, dass er ihn blöd findet.
Das gibt mir ein kleines bisschen Hoffnung.
Ein Stückchen Hoffnung, das in dem Moment abstirbt, als er seine Aufmerksamkeit ihrem Dekolletee zuwendet.
Ich meine, er ist so stumpfsinnig, so pubertär, und, offen gestanden, total peinlich. Und als ich gestern glaubte, meine Gefühle wären verletzt, als ich gezwungen war, ihn mit Drina knutschen zu sehen, muss ich rückblickend sagen, dass das gar nichts war im Vergleich zu dem hier.
Denn Drina ist Vergangenheit, heute ist sie nichts als ein schönes, hohles, oberflächliches Bild auf einer Scheibe.
Doch Stacia ist Gegenwart.
Und obwohl sie ebenfalls schön, hohl und oberflächlich ist, steht sie leider in all ihrer dreidimensionalen Herrlichkeit vor mir.
Ich lausche, wie Damens
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