Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
Vom Netzwerk:
ich nicht, und um das klarzustellen, begrüßte ich Brander jeden Morgen übertrieben herzlich.
    Eines Nachmittags wurde ich für meine Freundlichkeit belohnt – er zog mich ins Vertrauen. Was er mir über brasilianische Diamanten erzählte, kam mir anfangs ziemlich übertrieben vor, doch zum Glück bewahrte mich der Ernst in der Stimme dieses sonst so schweigsamen Mannes vor einem voreiligen Urteil.
    In den folgenden Wochen warf er mir hin und wieder Informationsbrocken hin. Auch mich begeisterte die Möglichkeit, in einem anderen Land mein Glück zu suchen, genau wie ihn.
    Zu Hause fand ich ein Buch über Brasilien, das wahrscheinlich noch von meinen Vater stammte, aus irgendeiner Haushaltsauflösung. Ich stürzte mich darauf, als ginge es um mein Leben. Nach einem Monat konnte ich die Namen der wichtigsten Städte und Flüsse auswendig, wusste so manches über die brasilianische Flora und Fauna und hätte Brander – wenn er mich danach gefragt hätte – erzählen können, was es mit Antonio dem Ratgeber auf sich hatte, dem Anführer armer Brasilianer, deren Siedlung in Canudos im Jahr 1897 dem Erdboden gleichgemacht wurde. Der Ratgeber war kurz vor dem Massenmord an Ruhr gestorben. Seine Leiche wurde von den Regierungstruppen ausgegraben, fotografiert – das Foto befand sich auf Seite 371, ich hätte es ihm sofort zeigen können – und nachträglich enthauptet.
    Sollte er an dieser Geschichte keinen Gefallen finden, hätte ich Brander vom Leben des berühmten Schriftstellers Euclidesda Cunha erzählen können, der im Jahr 1909 vom Liebhaber seiner Frau ermordet wurde. Oder vom Schicksal seines Sohnes, dem selbiger Liebhaber eine Kugel durch den Kopf jagte, als der seinen Vater rächen wollte.
    Die Schwärmerei für mein neues Vaterland – in Gedanken lebte ich bereits dort – ging sogar so weit, dass ich mir Jahre später den Stern von Rio im Kino ansah, eine Schnulze über einen berühmten brasilianischen Diamanten.
    Zu Hause erwähnte ich meine Pläne nicht. Für meine Mutter war allein schon die Vorstellung, dass ich mir eines Tages in Amsterdam eine eigene Wohnung suchen würde, unerträglich. Brander bekam also die volle Ladung ab. Wahrscheinlich gab ihm meine Begeisterung zu denken.
    »Beruhig dich mal wieder, Junge.«
    »Ich bin doch ganz ruhig!«
    Ob ich mir sicher sei, dass ich mitwolle? Ob ich nicht ein bisschen zu jung sei? Wie alt sei ich denn überhaupt? Sechzehn, siebzehn?
    Eines Tages im Sommer 1937 verschwand Brander. Die anderen Burschen behaupteten, er habe endlich eine Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sei mit ein paar Diamanten in der Tasche abgehauen. Der Chef dagegen sagte, Brander wolle sein Glück »woanders« versuchen, doch das hätte ich selbst dann gewusst, wenn er es nicht gesagt hätte. Meinen neugierigen Kollegen hätte ich erzählen können, wo er hingegangen war, ich hätte ihnen wiedersprechen können und sagen, dass Brander kein Dieb war, doch dazu hatte ich keine Lust. In meinen Augen hatte er trotzdem ein Verbrechen begangen. Sein Verrat lähmte mich völlig.
    Um über meine Enttäuschung hinwegzukommen, räumte ich das Buch über Brasilien weg, trainierte intensiver und bereitete mich auf eine Zukunft als neuer Mittelgewichtsmeister derNiederlande vor. Ich verfolgte die Karrieren von Joe Lewis, Max Schmeling und Primo Carnera, als wären sie meine Rivalen. Um der internationalen Presse Rede und Antwort stehen zu können, brachte ich mir anhand einiger Lehrbücher, die mein Vater irgendwann einmal ergattert hatte, vorsorglich ein paar Brocken Englisch bei und übte vor dem Spiegel einen Blick ein, der eines holländischen Sporthelden würdig wäre. Ich wusste, dass ich mir etwas vormachte, doch es schien mir besser, mich Zukunftsfantasien hinzugeben, als über etwas nachzugrübeln, das nicht eingetreten war.
    Und jetzt war ich plötzlich da, wie eine menschliche Kanonenkugel quer durch die Zeit geschossen, im Büro dieses verfluchten Max Brander.
    Bevor ich mir zurechtlegen konnte, wie ich ihm entgegentreten sollte, ohne das Gesicht zu verlieren, stand er schon vor mir, fast unverändert. Auch für ihn schien unsere Begegnung in erster Linie auf reinem Zufall zu beruhen. Er senkte den Kopf, die Brille rutschte ihm auf die Nasenspitze, und er sagte: »Der junge Jacobson.«
    Wir gaben uns die Hand. Brander führte mich in sein Büro und setzte sich an einen riesigen Schreibtisch. Er trug noch dasselbe Bärtchen. Seine großen, tief liegenden Augen waren noch weiter

Weitere Kostenlose Bücher