Der blaue Vogel kehrt zurück
Kittmeister und den Schleifern hin- und hergewandert war, durfte ich selbst einen Diamanten auf Ecken schleifen. Das war ein feierlicher Augenblick. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte, und die anderen Schleifer wollten mir offenbar nicht reinreden, trotzdem rieb ich die Drehscheibe mit zu viel Diamantenpulver ein und dieGreifzange, in die ich den Doppen mit meinem allerersten Stein geklemmt hatte, zitterte in meiner Hand. Meine Nervosität legte sich erst, als ein mir gänzlich unbekannter kleiner Junge den Diamanten abholte, nachdem ich mit der ersten Facette fertig war.
Ich schliff erst die Tafel, dann die vier unteren Ecken und schließlich die vier oberen. Der alte Kittmeister ließ sich Zeit, bevor er brummelnd seine Zustimmung bekundete, doch Flip Tuinder beglückwünschte mich und hieß mich im Fach willkommen.
Die Tage vergingen schnell, aber ich war trotzdem ungeduldig. Mir kam es so vor, als ob ich diese Handgriffe binnen weniger Monate beherrschen würde, so dass es schon bald für mich nichts mehr zu lernen gäbe und ich dann hier festsäße und mich langweilte. Mein Lehrmeister aber ließ mich immer genau zur rechten Zeit ein kleines Stück weiterrücken, und erst als ich eines Tages als angehender Brillantenschleifer minutiös die Rundist- und die Tafelfacetten am Oberteil und am Unterteil des Diamanten anbringen durfte, wurde mir bewusst, wie umsichtig Tuinder mich in seine Welt eingeführt hatte.
In diesen Jahren fand ich das Ansammeln von Wissen genauso befriedigend wie den Aufbau meiner Muskelkraft. Mit meinen Fortschritten beim Boxclub Olympia oder der zunehmenden Anzahl gewonnener Kämpfe konnte ich Flip Tuinder nicht beeindrucken. Er ließ mich von den ausgeteilten Schlägen erzählen, von den Gewichten, die ich stemmen konnte, oder von den Kilometern, die ich im Sportdress an der Amstel entlanggelaufen war, doch ich wusste, dass er, noch bevor ich zu Ende erzählt hatte, sagen würde: »Sehr schön, Jacobson, und jetzt wieder ab an die Arbeit.«
Wir arbeiteten bis zum Ausbruch des Krieges zusammen.Seine Lektionen und meine jungen, besonders scharfen Augen sorgten dafür, dass ich mich bei kniffligen Arbeiten als – ich zitiere den Chef – ausgezeichneter Brillantenschleifer hervortat. Jahrelang saß ich an meinem festen Platz auf der Südseite im dritten Stock.
Bis zu dem Tag, an dem ich Max Brander traf, ging ich davon aus, dass ich irgendwann einmal von der Süd- zur Nordseite des Gebäudes umziehen würde, wo besseres Licht auf schönere Steine fiel; dass ich mich vom Lehrling zum Meister entwickeln würde und eines Tages weitergeben könnte, was ich selbst hatte lernen dürfen.
So wuchs ich heran, in diese Richtung lief es, aber wäre ich ein Diamant und das Leben ein Schleifer, dann tat es sein Werk, wie es sich gehörte: Ich wurde entgegen der Wuchsrichtung bearbeitet.
In Zukunft sollte ich keine Steine mehr schleifen, ich würde sie nur noch finden. Und auf lange Sicht gesehen nicht einmal mehr das.
10
Noor fragt mich, was ich vorhabe.
»Darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach«, gebe ich zurück.
Grachtenfahrten und Museen entfallen, schließlich bin ich kein Tourist. Ein Familienbesuch? Nein. Selbst wenn man eine Beerdigung als Familienbesuch bezeichnen könnte: Dafür war ich zu spät gekommen. Mein Cousin Seno wurde unter die Erde gebracht, als ich mich hoch oben in der Luft befand; ich hatte mich noch nie so weit von ihm entfernt gefühlt. Was käme sonst noch in Frage? Ein Klassentreffen? Freunde? Die meisten meiner Freunde, ob hier oder in Brasilien, sind tot.
So, wie Vicky mich in Belo Horizonte an Verabredungen erinnert, die ich vergessen könnte – oder mir zeigt, wo ich etwas wiederfinde, was ich zuvor selbst an diese Stelle gelegt habe –, flüstert sie mir hier in der Hotellobby zu, ich hätte ihr doch erzählt, dass ich auch jemanden von früher besuchen wolle.
»Erinnern Sie sich noch, alter Mann? Dass ich da gefragt habe: einen Mann oder eine Frau?«
Ich sehe uns zu Hause am Küchentisch sitzen. Die Fenster sind geöffnet. Ich höre den Stadtlärm. »Eine alte Dame«, sagte ich.
»Aha, eine Freundin!«
»Nein, Vicky, ich habe sie seit fast siebzig Jahren nicht mehr gesehen und auch nicht gesprochen.«
Wie viel Zeit ist nötig, um Freundschaft zu schließen? Manchmal genügt eine Sekunde. Ich lasse es dabei bewenden. Auf eine Lüge mehr oder weniger kommt es nicht an.
»Schön, dann können Sie sich Geschichten von früher
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