Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
Vom Netzwerk:
verstanden.
    Zwischen den Geschäften und dem Bauzaun ist nur wenig Platz. Fahrrad- und Mopedfahrer rasen dicht am Bürgersteig entlang. Vor einem großen Kaufhaus sitzt ein Mann mit krausem Haar und spielt Gitarre. Er bietet mir seinen Hocker an, doch ich fürchte, nie mehr hochzukommen, wenn ich sein Angebot annehme. Außerdem habe ich noch kein Kleingeld, das ich ihm geben könnte, also lehne ich freundlich dankend ab und gehe weiter. Ab und zu frage ich nach dem Weg. Manchmal kann mir jemand weiterhelfen.
    »Sal Meijer? Noch ein kleines Stück. Nummer 45.«
    Ein kleines Stück.
    Wie lange ist es her, dass ich zu Meijer hätte rennen können und ohne Pause wieder zurück zum Hotel? Jetzt fällt mir jeder Meter schwer. Wo sich früher das Rai-Messegebäude befand,steht jetzt ein Altersheim. Ich fange den Blick eines Bewohners auf, der im Erdgeschoss aus dem Fenster schaut. Ich stelle mir vor, dass er genau an der Stelle sitzt, wo er sich siebzig Jahre zuvor als kleiner Junge eine Zirkusvorstellung oder ein Radrennen angesehen hat. Oder dass er einmal, wie ich, mit seinem Vater hier eine Autoschau besucht hat.
    Zu meiner Rechten sehe ich einen Blumenstand. Der Verkäufer trägt einen Hut. Er winkt. Vielleicht meint er ja mich. Zur Sicherheit hebe ich die Hand.
    Über den Kanal. Tauben, Stare und Möwen auf der Brücke. Ein Zebrastreifen. Viel Verkehr, wenig Zeit, um auf die andere Seite zu gelangen. Mir tun die Beine weh. Nummer 41, 43, da: 45. Sandwichshop Sal Meijer.
    Ich lege die Hand an den Türknauf und bleibe einen Augenblick stehen, um wieder zu Atem zu kommen, dann trete ich ein. Eine Frau mit hochgestecktem Haar sagt: »Guten Tag, suchen Sie sich einen Tisch aus, ich bin gleich bei Ihnen.«
    Ich sehe mir die Speisekarte an. Es ist, als hätte man mir ein verloren geglaubtes Fotoalbum in die Hand gedrückt: Fischfrikadelle, Essiggemüse, Ingwerschnecke.
    »Was darf ’s sein?« Die Frau hält ihren Bleistift gezückt.
    »Zuerst hätte ich gern eine Fischfrikadelle.«
    »Ein Brötchen dazu?«
    »Gerne. Und eine Tasse Tee.«
    Ich sehe mich um und stelle fest, dass das die Art Lokal ist, in dem Delmonte verkehren würde. Am Fenster sitzen ein paar alte Männer an einem Tisch. Ich glaube, sie diskutieren die Lage im Nahen Osten, alle mit derselben Vehemenz. Alte Juden sind überall gleich – Meckerfritzen, Besserwisser –, aber sie können mir bestimmt sagen, ob Bobby Delmonte manchmal herkommt. Der Mann, der mir gerade entwischt ist. Ich suche nicht gern; ichwürde ihm lieber zufällig über den Weg laufen, genauso wie Max Brander kurz nach dem Krieg in Rio de Janeiro.
    »Bitte sehr.«
    Ein gewisser Maurits, so hatten sie den Mann gerufen, bringt mir die Bestellung. Ein knuspriges Brötchen, belegt mit einer goldbraunen, platt gedrückten Kugel.
    »Senf dazu?«
    »Nein danke.«
    »Lassen Sie es sich schmecken.«

12
    Inmitten der Schilder in der Eingangshalle eines Gebäudes in der Avenida Rio Branco prangte auch das seine, auffallend schlicht: »Brander Diamonds. Cutters, Exporters, Manufacturing Jewellers«. Im Aufzug auf dem Weg in den sechsten Stock verschwendete ich keinen Gedanken daran, wie merkwürdig es war, in diesem riesigen Land, in dieser Millionenstadt einen Amsterdamer wiederzutreffen.
    Rio sei der richtige Ort, um meine Diamanten an den Mann zu bringen, hatten mir Leute erzählt, die sich auskannten, und in dieser Avenida gab es mindestens hundert Händler. Da war es doch kein Wunder, dass einer von ihnen Max Brander war?
    Erst als seine Sekretärin mich in ein Wartezimmer führte, begann ich mir den Kopf über diesen Zufall zu zerbrechen, und eine halbe Stunde später spürte ich auch wieder alten Ärger hochsteigen, Ärger darüber, dass der Mann, den ich gleich wiedersehen würde, mich vor fünfzehn Jahren so schmählich im Stich gelassen hatte.
    Bei Asscher war Brander nicht beliebt gewesen. Er bekam nur selten schöne Steine zum Schleifen und nahm das allen unheimlich übel. Doch nach einer Weile erkannte selbst ich, der ich noch lange unter den Fittichen meines Lehrmeisters bleiben sollte, dass er kein besonders guter Schleifer war.
    Jedes Mal, wenn Brander seinen Steinbrief auffaltete, ließ er die Schultern enttäuscht sinken, dabei hätte ich einiges darum gegeben, die ihm zugeteilte Partie Steine zu bekommen.
    Er wurde jeden Abend durchsucht, weil er in dem Verdacht stand, früher einmal etwas gestohlen zu haben, wie mir einer der anderen Burschen erzählte. Solchen Tratsch mochte

Weitere Kostenlose Bücher