Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
Vom Netzwerk:
Jungs vom Widerstand.«
    Ich sehe ihn zwar, diesen Meneer Mok, und ich bin mir sicher, dass ich mich für die Ingwerschnecke bedankt habe, die man mir hingestellt hat, aber meine Sicht verschwimmt und Geräusche dringen kaum mehr zu mir durch. Wieso Widerstand?
    »Und darf ich fragen, wer Sie sind?«
    »Jo… Jonah Brander.«
    »Woher?«
    »Aus Brasilien.«
    »Von Brander Diamonds?«
    »Ein Neffe.«
    Ich versuche, so selbstbewusst wie möglich dreinzublicken, während ich Mok etwas über das Unternehmen meines angeblichen Onkels erzähle, doch es will mir nicht gelingen. Ich entschuldige mich, sage, ich sei alt und leide unter Jetlag.
    Mok unterbricht meine Litanei, gibt mir die Hand – »alles Gute« – und kehrt an seinen Tisch zurück. Seine Gestalt flimmert, als wäre der Fußboden des Sandwichshops aus heißem Asphalt. Ich halte mich mit beiden Händen am Rand des Tisches fest.
    Besorgt bietet Maurits an, mir ein Taxi zu rufen. Nur halbherzig lehne ich das Angebot ab und lasse mich zehn Minuten später in das Auto verfrachten, das mich zum Hotel zurückbringt.

14
    Noor sitzt an ihrem Platz, den Hörer am Ohr. Als sie mich erblickt, verdreht sie die Augen und gibt mir zu verstehen, dass die Person am anderen Ende der Leitung einfach nicht aufhören will zu reden.
    Ich gehe an der Rezeption vorbei zum Aufzug. Schade, dass sie keine Zeit für mich hat. Ich hätte ihr gern von Bobby Delmonte erzählt. Oder von mir. Im Grunde genommen ist das ein und dasselbe.
    Erst einen Tag bin ich in Holland, und schon ist er wieder da, genau so, wie ich ihn vor langer Zeit hier zurückgelassen habe. Die Hände in die Seiten gestemmt, das Kinn in die Luft gereckt, den Hut schräg auf dem mit Brylcreem glatt zurückgekämmten Haar. Den gelben Stern auf der rechten Brusttasche seines guten Anzugs.
    Dank dieses lausigen Boxers, des falschen Helden, schlägt die lange verdrängte Trauer um die Toten in meinem Leben in Wellen über mir zusammen. Familie und Freunde sehe ich, die längst zu Staub geworden sind. Beerdigt oder eingeäschert. In eine Grube geworfen oder in Rauch aufgegangen – nein, nein, Jonah, du musst dich zusammennehmen, halte dich gut fest.
    Langsam steige ich die Treppe hinauf, bleibe auf jeder Stufe stehen. Mein Brustkorb hebt und senkt sich rasch.
    Wie kann etwas, das so weit weg war, plötzlich wieder so nah sein?
    Ich sehe die Menschen, die nicht mehr sind, vor meinem inneren Auge einen nach dem anderen an mir vorbeiziehen. Der Letzte in der Reihe – ich meine, Landau zu erkennen – flüstert mir zu, dass ich doch selbst am besten wisse, wohin mit meiner Trauer.
    Ich höre das Stimmengewirr, Lieder und Gebete. »Seid ihr da?«, frage ich. Natürlich bekomme ich keine Antwort, aber jetzt, da ich weiß, wo ich hingehen kann, fühle ich mich weniger einsam. Vielleicht gelingt es mir sogar, wieder zu der Erkenntnis zu gelangen, dass nicht die Dinge selbst mich verwirren, sondern meine Sichtweise dieser Dinge.
    Ich spüre eine Hand an meinem Rücken.
    »Ein bisschen Hilfe kann sicher nicht schaden. Haken Sie sich doch bei mir ein.«
    Ein Unbekannter begleitet mich zu meinem Zimmer. Drinnen weiß ich nicht mal mehr, ob es ein Mann oder eine Frau war.
    Ich lege mich hin und stelle mir vor, dass sie mich hier tot auffinden, vollständig bekleidet und mit Schuhen an den Füßen. Ein alter Mann aus Belo Horizonte. Ein kleiner Junge aus De Pijp.
    Ich schließe die Augen und sehe mich wieder in dem Radkasten unter einem Waggon hängen. Das Bild kündigt einen Traum an, den ich lieber überspringen würde. »Bleib wach«, sage ich, doch da lässt die Lokomotive schon Dampf ab. Ich höre metallisches Klappern, Wind kommt auf.
    Wenn der Zug Fahrt aufnimmt, fürchte ich hinunterzufallen und von den Rädern zermalmt zu werden, doch sobald er seine Fahrt verlangsamt, überkommt mich die Angst, entdeckt zu werden.
    Sie finden mich, ich werde wüst beschimpft, die Böschung hinaufgejagt und an Ort und Stelle erschossen, doch gleichzeitigbleibe ich unbemerkt, passiere die belgisch-französische Grenze, krieche aus meinem Versteck, ziehe den Overall aus, gehe los und setze mich mit der größten Selbstverständlichkeit in die zweite Klasse zu den anderen Fahrgästen.
    So wechseln sich meine Schicksale miteinander ab: tot neben den Schienen, lebendig in Paris.
    Ich rede mir gut zu. Keine Angst, dir passiert nichts, du schaffst es über die Pyrenäen, durch Spanien und Portugal, über den Atlantik bis nach Brasilien.
    Die

Weitere Kostenlose Bücher