Der Blaumilchkanal
lassen ihn das die Leute tun?«
»Vielleicht, weil sich die Leute gern aufhetzen lassen.«
Sie hatten eine kleine, bewachsene Waldlichtung erreicht. Dwora setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, und Zev legte sich zu ihren Füßen hin.
»Weißt du, Zev, der Pappi benimmt sich seit neuestem so seltsam«, klagte das Mädchen, während es genußvoll Zevs Haare zauste. »Plötzlich hat er sich entschlossen, anstelle des Barbiers Bürgermeister zu werden. In den letzten Tagen ist er nicht zur Arbeit hinausgegangen, er bespricht sich nur immer mit dem Herrn Ingenieur, und nachher sitzt er stundenlang in seiner Werkstatt und >klärt<. Es ist einfach nicht mit ihm zu reden. Du weißt ja, wie dickköpfig er ist!«
»Wie soll ich das wissen?«
»Er ist störrisch wie ein Maulesel. Ich weiß, es ist nicht nett, daß ich meinen Vater einen Maulesel nenne, aber was er vorhat, ist schrecklich. Gestern abend kam er vom Herrn Ingenieur heim und sagte mir: >Ich muß beweisen, daß ich wirklich für das öffentliche Wohl arbeite, nicht wie Hassidoff, der keine Ahnung vom Rasieren hat!< Wir saßen da und haben den ganzen Tag geklärt. Ich habe verschiedenes vorgeschlagen, was wir wirklich brauchen, wie zum Beispiel mehr Kinder im Dorf oder kühleres Wetter, aber erst am Abend hatten wir eine gute Idee: Es gibt nicht genug Wasser im Dorf. Der Papa war schrecklich glücklich, und ich hab’ sofort ein großes Schild in Großbuchstaben machen müssen: >WIR WERDEN SO LANGE NICHT GENUG WASSER HABEN, SOLANGE DER BARBIER BÜRGERMEISTER IST. WENN ICH
BÜRGERMEISTER BIN, WERDE ICH FÜR EINEN GROSSEN
B runnen mitten in der S tadt de facto sorgen .< Und jetzt will der Papa diese Ungeheuerlichkeit in der Werkstatt aufhängen, damit es jedermann sehen kann. Wieso lachst du so? Es ist gar nicht komisch!«
Zev wälzte sich vor Vergnügen.
»Fabelhaft!« keuchte er zwischendurch. »Gärung!«
»Was soll denn das, Genossen?« schrie Dulnikker Zemach Gurewitsch gellend an, als er das Schild an der Wand las. »Was für einen Zweck soll denn das eigentlich haben, wenn ich fragen darf?«
»Eine Art schriftlicher Verständigung«, stammelte der Schuhflicker. »Haben Sie mir denn nicht selbst gesagt, Herr Ingenieur, und ich zitiere: >Wasser ist eine feine Idee, aber Sie werden sie dem Dorfpublikum zur Kenntnis bringen müssen So habe ich mir vorgestellt, daß sie alles darüber lesen.«
»Die Idee eines Plakats ist durchführbar«, meinte der Staatsmann, »aber es müßte gedrängter und pointierter ausgedrückt werden. Sie müssen es zu einem Schlagwort machen!«
»Einem Schlagwort?«
»Ja. So ist es wirksamer, Genossen. Schweigen Sie - ich möchte etwas Ruhe haben.«
Dulnikker versank in Gedanken, während der Schuhflicker und sein Assistent auf ihren Schemeln zu Statuen unendlicher Ehrfurcht erstarrten. Der Staatsmann hob die Augenbrauen zum Zeichen der geistigen Anstrengung, genoß eine Weile das erwartungsvolle Schweigen und verkündete dann seinen Slogan:
DER BARBIER BAUT KEINEN BRUNNEN!
D er S chuster einen feinen B runnen !
Am nächsten Tag schlenderte Dulnikker allein über die Dorfstraße. Im tiefsten Herzen war er froh, daß sich sein fauler Sekretär in diesen letzten paar Tagen nicht blicken ließ; denn Zevs zynische, verächtliche Einstellung seiner Erziehungskampagne gegenüber hatte den Zorn des Staatsmannes erregt. Dulnikker vermerkte mit tiefer Befriedigung, daß der Karren, komplett samt alternder Eselin und rauchendem Kutscher, noch immer vor Hassidoffs Haus wartete, trotz der Tatsache, daß die Frist, für die ihn Dulnikker gemietet hatte, schon vor einigen Tagen abgelaufen war. Dulnikker vermutete, daß der Barbier nicht gewillt war, auf sein königliches Gefährt zu verzichten, damit ein solcher Schritt nicht den Eindruck machte, als gebe er seinem Gegner Zemach Gurewitsch nach. Und genauso war es: Salman Hassidoff hielt aus Anmaßung an dem Karren fest und bezahlte ihn aus eigener Tasche. Außerdem fuhr er an einem äußerst heißen Tag zu dem direkt gegenüberliegenden Schuhflickerhaus und sagte von oben her zu Zemach Gurewitsch, der neiderfüllt nur mit den Zähnen knirschen konnte: »Morgen schicke ich meinen Kutscher um den Schuh herüber.«
Als Dulnikker den Barbierladen betrat, kehrte die Frau ihren Fußboden genauso, wie sie es getan hatte, als er zum erstenmal aufgekreuzt war. Diesmal jedoch war ihre Haltung dem Staatsmann gegenüber völlig verändert. Dulnikker setzte sich auf den Sessel, stopfte
Weitere Kostenlose Bücher