Der Blaumilchkanal
sich das Handtuch in den Kragen und -dann bemerkte er den kleinen Zettel, der am Spiegel klebte:
S chuster baut keinen B runnen !
D er B arbier einen feinen B runnen !
In des Staatsmannes Seele begannen laut die Siegesglocken zu erschallen.
»Verzeihung, mein Freund«, fragte der Staatsmann unschuldig, »was ist denn das?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte der verlegene Barbier. »Alle erzählen mir, daß Gurewitsch ein Schild hat, auf dem das Gegenteil steht.« Hassidoff wandte sich bekümmert seiner Frau zu, die ihm unverzüglich zu Hilfe kam:
»Daß es ein Gedicht ist, verstehen wir, Herr Ingenieur«, sagte sie. »Aber wozu der Brunnen?«
»Zufällig weiß ich, was hier vorgeht, Madame«, erwiderte der Staatsmann. »Der Schuster verspricht dem Dorf einen Brunnen, wenn er zum Bürgermeister ernannt wird.«
»Aber in diesen Bergen gibt es unterirdisch doch keinen Tropfen Wasser!«
»Meine Herren, er verspricht nicht Wasser, er verspricht einen Brunnen.«
»Höre, Salman«, brüllte sein Heldenweib, »dann wirst du eben auch einen Brunnen versprechen! Sogar zwei Brunnen! Drei!«
»Nützt nichts, Madame.« Der Staatsmann schüttelte traurig sein Haupt. »Der Schuster hat die Glaubwürdigkeit a priori für sich. Daher wird man ihm eher glauben.«
»A priori?«
»A priori.«
»Warum?«
»Weil er die Opposition ist. Er tritt mit der Regierung in Konkurrenz.«
»Das ist eine Schweinerei!« schrie der Barbier himmelwärts. Sein Weib begann dem warmen, menschlich so mitfühlenden Ingenieur ihr Herz auszuschütten. »Schauen Sie, Herr Ingenieur«, sagte Frau Hassidoff weinerlich, »jetzt auf einmal wollen sie alle Bürgermeister de facto werden, nur weil es
Mode ist. Und trotzdem haben wir bis jetzt nicht einmal gewußt, daß wir einen Bürgermeister haben.«
»Sie haben recht, Madame«, entschied Dulnikker. »Das Seniorat Ihres Gatten ist unbestreitbar.«
»Hörst du, Salman? Der Herr Ingenieur sagt auch, daß du irgendein Seniorat hast.«
»So?« brüllte Hassidoff, und sein Blick war mörderisch. »Was will also dieser dreckige Kerl, der die Schuhe so flickt, daß man nicht in ihnen gehen kann? Was will er eigentlich?«
»Eine Regierungsumbildung«, erklärte Dulnikker und fügte höchst erheitert hinzu: »Benützen Sie nicht Ihre Zunge, Herr Hassidoff; benützen Sie auch Ihre Klinge!«
Das Rasiermesser in Salman Hassidoffs Hand tanzte tatsächlich wie das Schwert in der Hand eines nervösen Fechters. Der Barbier errötete bis zum Scheitel seines kahlen Schädels.
»Salman«, jammerte die Frau, »denk daran, was dir Hermann Spiegel gesagt hat! Du darfst dich nicht aufregen! Diese ganze Bürgermeisterei de facto ist deine Gesundheit nicht wert.«
»Recht hast du, Weib«, keuchte Hassidoff. »Ich trete zurück, und damit hat sich’s!«
»Zurücktreten?« Frau Hassidoff richtete sich hoch auf. »Niemals!«
»Aber meine Herren, meine Herren«, beruhigte sie Dulnikker sanft. »Um Himmels willen, wohin sind wir geraten? Was ist mit diesem soliden Dorf geschehen?«
»Herr Ingenieur, Sie sind ein zu gütiger Mensch, um so etwas zu verstehen«, bemerkte die Frau. »Seit neuestem hat sich hier eine Menge verändert!«
»Jedenfalls möchte ich gern helfen. Bitte informieren Sie mich, meine Herren, wie hier der Bürgermeister gewählt wird.«
»Er wird nicht gewählt«, klärte ihn der Barbier auf. »Bisher hat sich das immer ungefähr so abgespielt: Wenn sie mich zuviel belästigt haben, hab’ ich zu schreien angefangen, daß ich genug habe, und von jetzt an soll jemand anderer die Liste zusammenschreiben. Dann sind sie alle über mich hergefallen und haben behauptet, daß ich fehlerlos hebräisch schreibe und daß ich viel mehr Zeit habe, weil ich nicht immer warten muß, bis ich beim Barbier drankomme. So war’s, wie sie mich immer gewählt haben.«
»In jedem Fall muß das Wahlsystem unverzüglich geändert werden«, verkündete Dulnikker. »Nicht länger soll ein blindes Schicksal eine so gewichtige Frage entscheiden; sie wird einem fairen Wettkampf auf Gemeindebasis unterzogen.«
»Fein!« rief der Barbier. »Ich bin bereit dazu!«
»In nächster Zukunft werden wir einen Provisorischen Dorfrat einberufen, als oberste Instanz, welche die Interessen des Dorfes repräsentiert«, fuhr Dulnikker fort, seinen Geheimplan zu erläutern. »Von nun an, meine Herren, wird nur eine Gemeindekörperschaft festsetzen und entscheiden, wer Bürgermeister von Kimmelquell wird!«
»Gemeindekörperschaft?«
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