Der Blaumilchkanal
potentiellen Vergeltung hatte dem Herzen des Staatsmannes oft Frieden gebracht. Shimshon Groidiss und seine anderen niederträchtigen Rivalen hatten in der Partei unaufhörlich gegen ihn intrigiert, und Dulnikker hatte oft die Zeit für reif gehalten, mit seinen Memoiren zu beginnen, selbst wenn auch nur aus dem Grund, die Namen seiner schlimmsten Feinde wegzulassen, als hätten sie nie existiert.
Jetzt, da sein Krankenwärter in die Wälder verschwunden war, sah sich Dulnikker gezwungen, das Vieh allein zu hüten. Zuerst war der Staatsmann der zusätzlichen Last etwas müde, bald aber zeigte es sich, daß der Status quo vorherrschte; das heißt, die unschuldigen Kühe fuhren mit ihren eigenen Bräuchen so fort, als vermißten sie den jüngeren Hirten nicht. Der Staatsmann verbrachte seine Zeit weiter mit unaufhörlichem Sonnenbräunen, als hoffe er, seine frühere Vernachlässigung dieses Bereichs wettzumachen. Außerdem entdeckte er einen neuen Zeitvertreib und begann die wunderbare Insektenwelt zu studieren. Fasziniert pflegte er sich auf dem Bauch auszustrecken und den Atem anzuhalten, während er einem uralten Tausendfüßler nachkroch, einem Geschöpf, das er zum erstenmal im Leben erblickt hatte. Dulnikker war von den Reizen der Natur so gefesselt, daß er die Welt um sich völlig vergaß, bis Malkas Stimme ihn in die Wirklichkeit zurückbrachte. Hajdud und Majdud hatten ihre Mutter begleitet, aber sie schickte sie sofort zum Blumenpflücken weg.
»Wollen keine Blumen, Mama«, erwiderten die Zwillinge. »Wollen zuhören.«
»Worüber ich mit dem Herrn Ingenieur sprechen will, ist nichts für kleinere Kinder«, wies sie ihre Mutter zurecht. Als die kleinen Lümmel davonwanderten, versicherte Majdud mit Seniorat:
»Wahrscheinlich reden sie über den Bastard von der Schuhflickerstochter.«
Malka war erregt, als sie Dulnikker sein Mahl servierte.
»Herr Dulnikker«, sagte sie zu ihm, »bitte besuchen Sie das arme Mädchen!«
»Warum, wenn ich fragen darf?« protestierte Dulnikker, dessen Ärger über das Mädchen nach dessen Pech nur größer geworden war.
»Weil er schließlich Ihr Krankenwärter war. Ich weiß, Sie haben ein sehr gutes Herz, Herr Dulnikker, und daß Sie tief innen Dwora bemitleiden. Jetzt sagen Sie kein Wort, Herr Dulnikker. Ich weiß, es ist nicht fair, daß Sie immer alles selber machen müssen, aber stellen Sie sich einen Augenblick vor, was Sie fühlen würden, wenn Ihr davongelaufener Krankenwärter Sie schwanger zurückgelassen hätte.«
Nach dem Abendessen ging der Staatsmann zum Haus des Schuhflickers und traf Zemach Gurewitsch daheim an, der niedergeschlagen auf und ab ging.
»Herr Ingenieur«, sagte der Schuhflicker düster, »glauben Sie mir, ich hätte das schändliche Geschöpf umgebracht, wenn es nicht meine Tochter wäre. So also stehen die Dinge! Da zieht ein Mensch ein mutterloses Mädchen auf, und dann kommt irgendein fremder Hochstapler daher und verdreht ihr den Kopf mit irgendeiner barbierhaften Schurkerei. Gehen Sie zu ihr hinein, Herr Ingenieur, sie ist gerade todunglücklich.«
Dulnikker zupfte zerstreut seine Krawatte zurecht und betrat das Zimmer des Mädchens ohne Begeisterung. Dwora lag auf dem Bett, die rotgeweinten Augen an die Decke geheftet.
»Schauen Sie mich nicht an, Herr Ingenieur«, piepste das Mädchen. »Ich schäme mich so. Zev erzählte mir immer, daß nichts passieren kann.«
Dulnikker schaute Dwora lange an und spürte plötzlich ein Würgen in der Kehle. Das Mädchen war so klein und so blond! Ein großäugiges Kalb, von dem noch immer der Geruch der Muttermilch ausging. >Mischa hat diesem Schurken gegeben, was er verdient! < dachte Dulnikker sehr befriedigt und setzte sich auf den Bettrand.
»Du brauchst dich nicht zu grämen, mein Mädchen, es ist ja nichts passiert. Die Natur wird dir helfen, die Katastrophe zu überwinden.«
»Oh, dieser verrückte Mischa! Wer hat ihn schon gebeten, meinen armen Liebsten zu verprügeln?«
Die Worte des Mädchens rührten das Herz des Staatsmannes. Er legte seine warme Hand auf ihren fröstelnden, zitternden Arm.
»Kopf hoch, mein Fräulein«, sagte er langsam. »Glauben Sie einem Mann, der Sechsundsechzig Jahre lang Erfahrung gesammelt hat: Das Leben heilt alles. Suchen Sie Trost in der Natur. Nehmen Sie zum Beispiel den gewöhnlichen Tausendfüßler - wie er seinen weichen Körper mit einer so überaus großen Schnelligkeit aktiviert. Hast du schon einmal einen Tausendfüßler gesehen,
Weitere Kostenlose Bücher